Saison 2004/2005: Konzert 6

Sonntag, 27. Februar 2005 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Süße Tränen

Violinmusik am Habsburgerhof Hélène Schmitt, Violine Dane Roberts, Violone Stephan Rath, Chitarrone Jörg-Andreas Bötticher, Cembalo H. Schmitt Sendung im Deutschlandfunk am 8.3.2005

Hélène Schmitt, das ist die Konzertmeisterin (zuletzt des Orchestre Philharmonique de Radio France), die mit achtzehn Jahren ihr Kammermusik- und Violinexamen mit dem premier prix ablegte und nach dem Studium der Barockvioline an der Schola Cantorum Basiliensis aus internationalen Wettbewerben in Brügge, Amsterdam und Melk als Preisträgerin hervorging. Regelmäßig ist sie auf allen wichtigen Festivals in Europa und Amerika zu Gast. Unerhörtes hat sie auch dieses Mal für das Programm ausgesucht. Mit ihrem Ensemble wird sie Violinmusik des Habsburgerhofes interpretieren. Die Wahlkölnerin Hélène Schmitt präsentiert sich mit diesem Konzert zum ersten Mal mit einem eigenen Programm dem Kölner Publikum.

Programmfolge

Giovanni Buonaventura Viviani (1638-1692)
Capriccio C-Dur
für Violine und Basso continuo (Venedig 1678)

Johann Heinrich Schmelzer (1620-1680)
Sonata quinta c-Moll
für Violine und Basso continuo (Nürnberg 1663/64)

Georg Muffat (1653-1704)
Partita d-Moll
für Cembalo solo (Wien um 1690)
Prélude
Allemande
Courante
Sarabande
Menuet I/II
Gigue

Pasticcio für Violine und Bass
Giovanni Battista Vitali (1632-1692):
Allemanda seconda e Zoppa (Bologna 1668)
Marco Uccellini (1603-1680):
Aria (Venedig 1645)
Anonym (Johann Heinrich Schmelzer?):
Sonata B-Dur

Pause

Nicolaus Adam Strungk [?] (1640-1700)
Contrapunkt sopra la Baßigaylos d'Altr "Wie schön leuchtet der Morgenstern"
Choralvariationen für Violine und Basso continuo

Giovanni Pittoni (gest. 1677)
Sonata da camera IX
für Theorbe und Basso continuo (Bologna 1669)
Grave
Corrente
Sarabanda
Gigue

Pasticcio für Violine und Bass
Heinrich Döbel (1651-1693):
Sarabanda - Couranto Ignazio Albertini (1644-1685):
Sonata ottava d-Moll für Violine und Basso continuo (Wien um 1683)

Johann Heinrich Schmelzer
Sonata D-Dur
für Violine und Basso continuo (Nürnberg 1663/64)

Italienische Inspirationen nördlich der Alpen

Italien zu Beginn des 17. Jahrhunderts: überreich an künstlerischen Talenten und berauscht von der Musik, die das Zeremoniell der Höfe und Kathedralen begleitet. Hier begannen sie zu blühen und zu reifen, der violinistische Stil und das Violinrepertoire. Schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als die Vokalmusik noch die Hauptrolle spielte und die Instrumente meist nur die Singstimmen stützten, hatte sich dank Giovanni Gabrieli allmählich eine rein instrumentale Schreibart entwickelt und sozusagen vom vokalen Idiom emanzipiert. Sie sollte in ihrem Erfindungsreichtum das ganze 17. Jahrhundert hindurch wachsen - und noch weit darüber hinaus.
Die reichen Städte und Höfe Norditaliens wie Venedig, Mantua, Brescia und Modena kündeten vom hohen Stand der Kultur, und die Musik dort präsentierte sich als brillante Botschafterin der herrschenden Adelsfamilien. Mehr noch: Die berühmten Musiker, die hier angestellt waren, konnten in Ruhe ihren ureigenen Instrumentalstil entfalten und eine Musiktradition, deren Ruhm die Grenzen ihres unmittelbaren Wirkungskreises weit überragte. So etwa die Komponisten und Violinisten Salomone Rossi und Giovanni Battista Buonamente; letzterer war wahrscheinlich der Lehrmeister Marco Uccellinis, Carlo Farinas und Biagio Marinis. Farina und Marini wiederum stammten aus Mantua und Brescia, wirkten einige fruchtbare Jahre lang als Hofmusiker in Dresden bzw. als Kapellmeister in Neuburg an der Donau.
Es war nur natürlich, dass sich begünstigt durch die engen politischen Beziehungen zwischen den Höfen beiderseits der Alpen auch ein künstlerischer Austausch mit der Elite der italienischen Musiker entwickelte. So konnte sich auch der Hof in Wien, wohin Ferdinand II. (1578-1637) seine Residenz verlegt hatte, eines regen Musiklebens und einer außergewöhnlich kreativen Atmosphäre erfreuen, die von den folgenden Regenten Ferdinand III. (1608-1657) und Leopold I. (1657-1705) aufrechterhalten wurde; alle drei Kaiser waren große Musikkenner.
Die Violinliteratur, die an der Wiener Hofkapelle durch Komponisten wie Antonio Bertali, Marc' Antonio Ziani und Antonio Cesti eingeführt worden war, sprach zwischen 1620 und 1650 vor allem Italienisch. Sie übte ihre Faszination recht bald auch auf Komponisten deutscher Zunge aus, so auf Johann Heinrich Schmelzer, Nicolaus Adam Strungk, Heinrich Ignaz Franz Biber und Johann Jakob Walther.

Ein gutes Stück entfernt von den Aufregungen des Wiener Hofes, im von Habsburg abhängigen Böhmen, befand sich die Kleinstadt Kremsier (Kromeriz), Residenz der Fürstbischöfe von Olmütz, die vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert ihre Eigenständigkeit wahren konnten. Karl von Liechtenstein-Castelcorn (1624-1695) prägte Kremsier durch seinen alles andere als bescheidenen Lebenstil, mit einer musikalischen Leidenschaft, wie sie kein anderer Fürst an den Tag legte. Während seiner Regentschaft von 1664 an gab er Unsummen für die Hofmusik aus; er unterhielt besondere Beziehungen u.a. zu Musikern der Hofkapellen in Wien und Salzburg - so zu Schmelzer, der sein musikalischer Berater war, und ebenso zu Biber, seinem Ersten Kapellmeister zwischen 1668 und 1670. Davon zeugt eine umfangreiche Musikhandschriften-Sammlung in seinem Schloss, die mit Sorgfalt aus verschiedenen Quellen zusammengetragen wurde. Sie umfasst Messen und Motetten, Sonaten und Tänze - unter letzteren Formen in einem ganz auserlesenen Stil, der italienische Einflüsse assimiliert und doch vollkommen autonom bleibt. Die Kompositionen für Solo-Violine und Basso continuo spielen in der Sammlung Liechtenstein eine bedeutende Rolle; das Archiv enthielt einst mindestens fünfhundert Werke dieser Art. Die italienischen Komponisten - so Marini, dessen Opus VIII 1629 erschien, und Uccellini mit seinen Opera IV, V und VII von 1645, 1650 und 1660 - hatten sich diesem Genre mit aller Hingabe und Virtuosität verschrieben. Man kann sich daher vorstellen, dass diese Stücke die Inspiration und die Kunstfertigkeit des großen Violinisten und Bertali-Schülers Johann Heinrich Schmelzer nährten, als er seine Sonaten Unarum Fidium komponierte. 1664 ließ er sie im Druck erscheinen und war damit der erste deutschsprachige Komponist, der Sonaten für Violine und Basso continuo veröffentlichte, vier Jahre nur nach Uccellinis Sonaten Opus VII, mit denen sie stilistisch verwandt sind. In Wien schon berühmt als Komponist und Violinist, erhielt Schmelzer 1658 das Amt eines Direktors der Instrumentalmusik am Hofe Leopolds und wurde dadurch eine weithin bekannte Persönlichkeit. Die Hochschätzung und das Vertrauen des Kaisers begünstigten seine glänzende Karriere und erhoben ihn 1673 in den Adelsstand. Seine Musik, die die Virtuosität, den raffinierten Einfallsreichtum und die Eleganz der Italiener aufgenommen hat, vergoldet die melancholischen, durch ausgedehnte Variationen versüßten Arien. Sie werden durch possenhafte Tänze unterbrochen, die das Erbe eines typisch süddeutschen Instrumentalidioms darstellen, des zugleich poetisch und treffend bezeichneten stylus phantasticus, den der deutsche Theologe und Theoretiker Athanasius Kircher (übrigens 1633 Mathematiker am Hofe Ferdinands II.) so definiert: "Die freieste, eigenständigste Kompositionsart, weder den Worten noch der Harmonie unterworfen; angelegt, um die Inspiration unter Beweis zu stellen, der harmonischen Logik fern; eingerichtet, die Verbindung geistreicher harmonischer Fortschreitungen und Fugen vorzuführen".
Die Violine ist die ideale Interpretin dieses Stils, der in aller Ruhe extremste Empfindungen darstellt - gleich wie der Lampe Aladins, wird sie ausreichend gestrichen, die Grimassen und das Gelächter ihres guten Geistes entschlüpfen.

Schmelzer bereitete einer Reihe von Komponisten den Weg, die sich entschieden, dem Genre a violino solo col basso continuo mit sprühender Phantasie zu folgen. Giovanni Battista Vitali war um 1665 Mitglied der berühmten Accademia Filarmonica in Bologna, bevor er 1673 zum maestro di capella an San Rosario ernannt wurde. 1674 ging er nach Modena, wo er als vice maestro di capella am Hof des Herzogs Francesco II. d'Este angestellt war. Besonders berühmt für seine Instrumentalmusik, vor allem für seine Triosonaten, schrieb er nichtsdestoweniger zwei Sammlungen für Violine solo: sein Opus IV, in dem ad libitum eine zweite Violine mitwirken kann, und sein Opus VIII. Opus IV bietet ein Mosaik von Tänzen per ballare (aber auch da camera, also zum reinen Musizieren), sie inspirierten später die Musik Arcangelo Corellis und Giuseppe Torellis.
Giovanni Buonaventura Viviani, geboren 1638 in Florenz, war am Tiroler Habsburgerhof in Innsbruck zunächst als Violinist (1656-1660), dann von 1672 bis 1676 als Kapellmeister angestellt. Seine Capricci armonici, 1678 in Venedig veröffentlicht, präsentieren einen entzückenden, mit Tänzen gemischten Strauß an sinfonie, toccate, arie und capriccii, die einige italienische Impressionen, aber ebenso den Stil der nördlichen Alpenseite in sich tragen. Die Fantasie über den Choral "Wie schön leuchtet der Morgenstern", die in der Bibliothek des Minoritenkonvents in Wien aufbewahrt wird, gibt uns einige Rätsel auf. Man kennt ihren Autor nicht, und merkwürdig erscheint die Vorstellung, dass ein solch großes Instrumentalstück über einen protestantischen Choral im katholischen Österreich komponiert worden sein soll. Üblich war so etwas hingegen bei den Organisten Norddeutschlands, und damit käme der niedersächsische Violinist und Organist Nicolaus Adam Strungk als ihr Komponist in Frage, der um 1660 nach Wien reiste und vor dem Kaiser spielte. Andererseits weist die lange, als Baßigaylos bezeichnete Passacaglia, die das Stück eröffnet, Bezüge zu einer Violin-Passacaglia Schmelzers auf, die ebenfalls in D-Dur steht...
Der Mailänder Violinist Ignazio Albertini, wie Biber im Jahr 1644 geboren, kam in seinem 27. Lebensjahr nach Wien und trat in die Dienste der Kaiserin-Witwe Eleonore. 1685 wurde er dann tragischerweise erstochen. Seine Musik für Violine, die in einer einzigen Quelle auf uns gekommen ist, tendiert zu einem gelehrteren, "erhabeneren" Stil als bei Viviani. Sein kompositorisches Raffinement erinnert in der Virtuosität an Schmelzer, weniger aber in der ehrgeizigen Formgebung der Stücke, die in einem Zug durchkomponiert sind und harsche Übergänge aufweisen. Albertinis anmutige Melodik strahlt jedenfalls vollkommen jene "süße Melancholie" aus, die von seinen deutschen Zeitgenossen so geschätzt wurde.

Um die Violinmusik der damaligen Zeit zu verstehen, erscheint es mir wichtig, aufmerksamer noch als die strengeren und kontemplativen Stücke jene stark stilisierten, leicht fasslichen Tänze zu betrachten. Dabei wird eine Art Polarität erkennbar, in der die Violine die unterschiedlichen Facetten ihrer Seele auszudrücken vermag: Sie war lange Zeit die Begleiterin der Tanzmeister und zeigte hier eine unerschütterliche Fröhlichkeit; gleichzeitig war sie die Komplizin in der aria amorosa - und in weit dunkleren Leidenschaften. Darauf möchte das heutige Konzert Ihre Aufmerksamkeit lenken.

Hélène Schmitt (dt. Fassung: behe)

Mitwirkende

Hélène Schmitt, Violine
Dane Roberts, Violone
Stephan Rath, Chitarrone
Jörg-Andreas Bötticher, Cembalo