Saison 2004/2005: Konzert 7

Sonntag, 17. April 2005 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Hamburg 1734: Händel, Buxtehude, Telemann u.a.

Andreas Staier stellt ein neues 16-Fuß-Cembalo vor Andreas Staier Sendung im Deutschlandfunk am den 3.5.2005

Immer ist er auf der Suche und nie ist er wirklich zufrieden. Immer wieder hört er seinen Interpretationen nach und immer wieder probiert er mit dem ein oder anderen Werk das eine oder andere Instrument aus. Wohl kaum jemand tut das mit solch forschendem Engagement wie Andreas Staier. Und er tut es immer wieder. Wenn das Experimentieren ein gewisses Stadium erreicht hat, tritt er mit seinen Ergebnissen an die Öffentlichkeit. Dieses Mal mit einem neuem 16-Fuß-Cembalo und Werken unter anderem von Georg Friedrich Händel, Dietrich Buxtehude und Georg Philipp Telemann.

Programmfolge

"Hamburg 1734"
Zur Einweihung des Cembalos nach Hieronymus Albrecht Hass, Hamburg 1734, gebaut von Anthony Sidey und Frédéric Bal, Paris 2005

Georg Friedrich Händel (1685-1759)
Chaconne G-Dur, HWV 435

Johann Adam Reincken (1643-1722)
Suite ex C
Allemande
Courante
Sarabande
Gigue

Dietrich Buxtehude (1637?-1707)
Praeludium & Fuga g-moll, BuxWV 163

Georg Philipp Telemann (1681-1767)
aus "Der getreue Music-Meister":
Ouverture burlesque d-moll
Ouverture à la Polonoise
Bourrée
Loure
Gavotte en Rondeau
Menuet
Giga

Johann Mattheson (1681-1764)
aus "Große General-Bass-Schule":
"Der Ober-Classe Dreizehntes Prob-Stück":
B-Dur, Con Spirito
"Der Ober-Classe Siebendes Prob-Stück":
D-Dur (transp. nach Es-Dur), Prestissimo

Georg Böhm (1661-1733)
Praeludium, Fuga & Postludium g-moll

Pause
Georg Philipp Telemann (1681-1767)
aus "Hamburger Ebb und Fluht" C-Dur
(Orchestersuite, bearb. für Cembalo von A.Staier)
Loure. Der verliebte Neptunus
Bourée. Die erwachende Thetis
Gavotte. Die spielenden Najaden
Harlequinade. Der schertzende Tritonus
Gigue. Ebbe und Fluth

Matthias Weckmann (1616?-1674)
Toccata IV in a

Heinrich Scheidemann (?) (1595?-1663)
Pavana Lachrymae in d
Galliarda in d

Georg Philipp Telemann (1681-1767)
aus der "Alster-Ouverture" F-Dur
(Orchester-Suite, bearb. für Cembalo von A.Staier)
Die Hamburgischen Glockenspiele
Die concertierenden Frösche und Krähen
Der Schwanen Gesang
Der Alster Schäffer Dorf Music

Brice Pauset (geb. 1965)
N.N. (Auftragskomposition für das neue Cembalo, 2005)

Disposition des Cembalos

Tonumfang FF-f'''
1. Manual: 8', 16', 16' Laute, 4'
2. Manual: 8', 8' Laute, 8' Nasal

Musik für Hamburgs Claviere

Das heutige Programm hat einen freudigen Anlass: die Fertigstellung eines Cembalos nach Hieronymus Albrecht Hass, Hamburg 1734, gebaut von Anthony Sidey und Frédéric Bal in Paris. Das Original befindet sich heute im Musée instrumental in Brüssel. Hass (1689-1752) ist vielleicht unter allen Cembalobauern der extravaganteste, der einzige, der sogar mehr als 200 Jahre nach seinem Tod noch Skandal erregen konnte. Niemand ist weitergegangen im Bestreben, dem Cembalo orgelartige Weite und Vielfalt zu geben. Seine Instrumente sind die größten und an Registern reichsten, die vor dem 20. Jahrhundert überhaupt gebaut wurden. Gewisse Ähnlichkeiten in der Disposition weist ein anonymes und vielfach überarbeitetes und verändertes Cembalo in der Sammlung des Berliner Musikinstrumenten-Museums auf, das lange Zeit fälschlicherweise für das Instrument Johann Sebastian Bachs gehalten wurde. Dieses vermeintliche "Bach-Cembalo" genoss natürlich Ikonenstatus und diente bis in die 1970er Jahre all jenen eichenfurnierten Monstren als Vorlage, bei denen mit den Techniken und Rezepten des modernen Klavierbaus versucht wurde, der Ästhetik des Cembalos auf die Schliche zu kommen. Ein vergebliches Bemühen, wie sich letztlich herausstellte, denn wenn ein Stradivari Herr seines Tuns war, bestand wenig Grund zur Annahme, dass die Tasteninstrumentenbauer seiner Zeit allesamt noch im Neandertal lebten und dringend der modernisierenden "Verbesserung" bedurften. Man besann sich also ab etwa 1960 zunehmend auf die "Originalinstrumente" und ihren möglichst genauen Nachbau. Gleichzeitig verordnete man sich eine Schlankheits-Kur: Nicht mehr überladene und ohnehin ominöse "Bach-Cembali" waren nun gefragt, sondern die Einfachheit und Kraft der einmanualigen italienischen oder die Subtilität und Eleganz der französischen Instrumente. Hass verfiel der Sippenhaftung, seine Schöpfungen wurden nun angesehen als "groteskes Ergebnis einer barbarischen Übertragung klanglicher Konzepte, die der Orgel angemessen waren" (so Frank Hubbard 1965).
Die Annäherung an die Historie verläuft meist im Zickzack. Heute wiederum scheint der Zeitpunkt gekommen, die Welt - zumindest aber mich selbst! - zu beglücken mit einer getreuen Kopie nach Hass. Hören Sie selbst...

Musikinstrumente werden dort gebaut, wo die Musik spielt. Hamburg, die norddeutsche Orgel- und Cembalometropole, ist eine der großen deutschen Musikstädte - wenn auch gleichsam wider Willen. Stolz war man zuallererst auf den großen Hafen, "Deutschlands Tor zur Welt"; durch ihn war das Bürgertum schon früh wohlhabend geworden. Doch ließ sich Hamburg auch die Kultur einiges kosten. In der erzprotestantischen Stadt eröffnete 1678 Deutschlands erstes Opernhaus, und ähnlich wie London Musiker aus ganz Europa anzog, war das reiche und liberale Hamburg attraktiv für viele ihrer deutschen Kollegen, die dem oft entwürdigenden Dienst bei Hofe oder der Borniertheit der Provinz zu entfliehen suchten. Nicht zufällig ging Johann Sebastian Bachs erste Reise Richtung Norden, und es lässt sich unschwer vorstellen, wie gerne er später das enge Leipzig gegen die weltoffene Freie und Hansestadt eingetauscht hätte. Bachs Jugendreise galt den berühmten norddeutschen Organisten. Ihr Werk ist zu großartig und ergreifend, als dass ich es hätte übergehen wollen - gerade, wo es hier um die Präsentation eines von der Orgel inspirierten Cembalos geht. Ich erlaube mir also einige Exkurse: ins 17. Jahrhundert (Scheidemann, Weckmann, Reinken) und in die nahe Umgebung, nach Lübeck (Buxtehude) und Lüneburg (Böhm).
Was Händel für einige Jahre nach Hamburg zog, war natürlich in erster Linie die Oper. Aber auch er war kein schlechter Tastenvirtuose, wie die einleitende Chaconne belegt. Ihre frühesten Entwürfe gehen auf seine Hamburger Zeit zurück; veröffentlicht wurde sie allerdings erst viel später, um 1721 in London. Händels Freund, der bedeutende Musikschriftsteller und unterschätzte Komponist Johann Mattheson, ist hier mit zwei Generalbass-Übungen vertreten, die ich ausgesetzt habe.
Schließlich ist dieses Programm eine Art Liebeserklärung an Georg Philipp Telemann, den vielleicht geistreichsten, charmantesten und bestgelaunten Komponisten, den es in deutschen Landen bisher gegeben hat. Seine Fröhlichkeit ist ihm von der Nachwelt (Adorno!) fast noch mehr verübelt worden als die Tatsache, dass ihm das Komponieren so unverschämt leicht fiel... Ich hätte ihm allenfalls vorzuwerfen, dass in seinem riesigen Œuvre der Ertrag an Clavierwerken nicht gerade reich ist. Dies brachte mich dazu, aus zwei seiner Orchestersuiten, die sich programmatisch auf Hamburg beziehen, einige Sätze für Cembalo zu bearbeiten. Hierbei ging mein Spieltrieb bisweilen über meine eigenen zehn Finger hinaus. Ich danke Christian Rieger sehr herzlich, dass er bereit war, mir mit weiteren zehn - und mit noch mehr guten Ideen - auszuhelfen!

Andreas Staier

Einführung

Kein Zweifel, Georg Philipp Telemann hatte 1721 die richtige Wahl getroffen, als er vom Amt des Musikdirektors an der Barfüßerkirche in Frankfurt in dasjenige der Hamburger Hauptkirchen wechselte: Bald wurde er überdies mit der Organisation der Oper am Gänsemarkt betraut, und auch als Konzertveranstalter sollte er eine glückliche Hand beweisen. Die handelsfreudige Atmosphäre beflügelte den umtriebigen Telemann aber auch zu publizistischen Unternehmungen. So veröffentlichte er 1728/29 für ein knappes Jahr alle 14 Tage seinen Journal Der Getreue Music-Meister, eine Folge von 25 "Lektionen" Kammermusik fürs musizierfreudige Bürgertum. Darinnen enthalten die Ouverture burlesque, mit der man sich in der galanten Form des französischen Hofes und doch gleichzeitig im volkstümlichen polnischen Ton am heimischen Kielflügel vergnügen konnte.
Höchst gewandt wusste auch Johann Mattheson die Feder zu führen. In musikalischen Fragen scheute der seit 1706 hauptberuflich als Diplomat in englischen Diensten tätige Hamburger Musikschriftsteller und Komponist kein offenes Wort. Schon im Kindesalter war er als Sänger an der Oper tätig gewesen war, seit 1718 wirkte er als Kantor am Dom, bis ihn zehn Jahre später zunehmende Schwerhörigkeit zum Rückzug aus der musikalischen Praxis zwang. Das hielt ihn aber nicht davon ab, sich weiterhin wortgewaltig in den musischen Diskurs einzumischen. Die letzten Opernjahre Matthesons wurden von der Anwesenheit des jungen Georg Friedrich Händel begleitet, der 1703 von seiner Heimatstadt Halle aus in Hamburg eingetroffen war. Mattheson erinnert sich 1740: "Anfangs spielte er die andre Violine im Opern-Orchester und stellte sich, als ob er nicht auf fünfe zählen könnte, wie er denn von Natur zum dürren Schertz sehr geneigt war. Als es aber einsmahls am Clavierspieler fehlte, ließ er sich bereden, dessen Stelle zu vertreten, und bewies sich als ein Mann; ohne dass es jemand anders, als ich, vermuthet hatte."
Im Januar 1723 hatte Mattheson Anmerkungen zum Lebenslauf des Katharinen-Organisten Johann Adam Reinken veröffentlicht, der kurz zuvor im Alter von nahezu 100 Jahren verstorben war: "Seinen Wandel betreffend, ist darauf von den Herrn Geistlichen bisweilen eins und anders zu sagen gewesen, wie er denn einen beständigen Liebhaber des Frauenzimmers und Raths-Weinkellers abgegeben; doch dabey seine Orgel jederzeit ungemein nett und wohl gestimmet gehalten, auch von solcher fast immer geredet, weil sie würklich sehr schönes Klanges ist. Er wußte sie auch auf eine solche besondere, reinliche Art zu bespielen, daß man zu seiner Zeit, in den Sachen, die er geübet hatte, keinen gleichen kannte." Reinken hatte seine Ausbildung als Organist bei Heinrich Scheidemann erhalten, dessen Nachfolge an St. Katharinen er 1663 antrat. Scheidemann wiederum war beim berühmten Jan Pieterszoon Sweelinck in Amsterdam in die Lehre gegangen. Bei einem anderen Hamburger Sweelinck-Schüler, dem Petri-Organisten Jacob Praetorius, war Matthias Weckmann am Clavier ausgebildet worden, auf Geheiß von Heinrich Schütz, dem er als Chorknabe am Dresdner Hof unterstand. 1655 wurde Weckmann zum Organisten der Hamburger Jacobikirche berufen, ein Amt, das er bis zu seinem Tod 1674 innehatte. Über seinen Organistendienst hinaus sollte er für Hamburg dadurch wegweisend werden, dass er 1660 ein Collegium Musicum gründete, mit dem er allwöchentlich öffentliche Konzerte gab.
Gewiss, man fand damals auch in Hamburgs Nachbarschaft herausragende Tastenkünstler: So den aus Thüringen stammenden Georg Böhm, der nach einem Studienaufenthalt in der Hansestadt seit 1697 an der Orgel der Johanniskirche in Lüneburg wirkte. Sein mehrsätziges g-Moll-Stück, das mit dem Pathos ausgedehnter Akkordfolgen beginnt, erschien noch Robert Schumann als "gespenstige Kaprice". Der virtuos wechselhafte Stylus phantasticus des Lübecker Organisten Dietrich Buxtehude wird die jungen Herren Händel und Mattheson 1703 ebenso motiviert haben, sich auf die Reise dorthin zu begeben, wie die Aussicht, in absehbarer Zeit das Amt des bald Siebzigjährigen übernehmen zu können. "Wir hörten anbey wohlgedachtem Künstler, in seiner Marien-Kirche, mit großer Aufmercksamkeit zu. Weil aber eine Heiraths-Bedingung bey der Sache vorgeschlagen wurde, wozu keiner von uns beiden die geringste Lust bezeigte, schieden wir, nach vielen empfangenen Ehrenerweisungen und genossenen Lustbarkeiten, von dannen."

behe

Mitwirkende

Andreas Staier, Cembalo
bei einigen Stücken wirkt
Christian Rieger mit