Saison 2004/2005: Konzert 8

Sonntag, 29. Mai 2005 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Psalmen und Madrigale aus dem frühen 18. Jahrhundert

Cantus Cölln Ltg. Konrad Junghänel Cantus Coelln Sendung im Deutschlandfunk 7.6.2005

Ob deutsch, italienisch, französisch oder englisch, ob szenisch oder konzertant, klein oder groß besetzt, solistisch oder chorisch, kirchlich oder weltlich, Renaissance- oder Barockmusik - Cantus Cölln unter der Leitung von Konrad Junghänel findet immer eine überzeugende Interpretation. Niemals geht es dem Ensemble um "die" einzig richtige Aufführungsweise, sondern immer streben die Musikerinnen und Musiker nach einer überzeugenden Mischung aus größtmöglicher Transparenz, individueller Emotionalität und sinnlicher Klanglichkeit. In diesem Konzert widmet sich Cantus Cölln der Vokalmusik von Benedetto Marcello und Antonio Lotti.

Programmfolge

Benedetto Marcello (1686-1739)

Psalm 10 "Mentro io tutta ripongo"
für Sopran, Alt, Tenor, Bass und Bc

Psalm 3 "O Dio perchè"
für Sopran, Alt und Bc

Psalm 44 "Dal cor ripieno"
für Alt, Tenor, Bass und Bc

Pause

Antonio Lotti (1667-1740)

Inganni dell'umanità
"A la tromba di Marte corre il guerrier"

für Alt, Tenor, Bass und Bc

Scherzo d'amore
"V'ho detto tante volte"

für 2 Tenöre und Bc

Lontananza insopportabile
"No, che lungi da quel volto"

für Sopran, Alt und Bc

Incostanza della sorte
"Quel sol, quel sol istesso"

für Sopran, Alt, Bass und Bc

Giuramento amoroso
"Poss'io morir"

für 2 Tenöre und Bc

Moralità d'una perla
"Piange l'amante ucciso

für Sopran, Alt, Tenor, Bass und Bc

Pdf-Download: Die Gesangstexte und Übersetzungen

Zwei Seiten einer kostbaren Medaille

Die Sprache sei die Herrin des musikalischen Satzes, nicht seine Dienerin - dieses künstlerische Credo, von Giulio Cesare Monteverdi als Sprachrohr seines Bruders Claudio im Vorwort zu dessen Scherzi musicali von 1607 formuliert, galt im 18. Jahrhundert längst nicht mehr allen Komponisten als Maxime in ihrer Vokalkunst. Denn in Kirche und Kammer, in Oper, Oratorium, Kantate und Messe war die Da-capo-Arie nahezu omnipräsent; die Librettisten berücksichtigten in vorauseilendem Gehorsam beim Dichten ihrer Texte die musikalische Vorliebe des Barock für das in sich geschlossene A-B-A-Schema. Gleichwohl verblieb dem freien Spiel der Formen als eine beliebte Nische das Madrigal. Als literarische Gattung hatte es dereinst der große Petrarca zu einer ersten Blüte geführt. Schon ihn sprachen die besondere Variabilität, die Freiheiten in Versmaß und Reimschema an. Seit dem 16. Jahrhundert hatte man die madrigalischen Dichtungen zum idealen Ausgangspunkt einer musikalischen Gattung stilisiert, die Gemütszustände und Gefühlsäußerungen in Klang verwandelte - und nun kurzerhand diese subjektive Kompositionsart ebenfalls als "Madrigal" bezeichnet. Man bevorzugte hier weltliche Inhalte, wies Geistliches gerne der musikalisch ähnlich gestalteten Motette zu (doch blieben die Grenzen fließend). Mit der Madrigalkunst beschäftigten sich vor allem die Akademien, schöngeistigen Idealen verpflichtete humanistische Privatzirkel gelehrter Adeliger und Bürger, die sich in den auch wirtschaftlich aufblühenden Städten dem Fortschritt der Kunst verschrieben hatten. Und darin sogar manch kulturell ambitionierten Fürstenhof übertrafen.

Für einen venezianischen Adeligen wie Benedetto Marcello war es geradezu selbstverständlich, mindestens einer solchen Akademie anzugehören. Er verfügte standesgemäß über die entsprechende literarische und musikalische Bildung. Im Alter von 17 Jahren hatte er beschlossen, es seinem älteren Bruder Alessandro in der Kompositionskunst zumindest gleichzutun und Francesco Gasparini zu seinem Lehrer erwählt, der damals als maestro del coro neben Antonio Vivaldi am berühmten Ospedale della Pietà wirkte. Als Marcello 1711 in die venezianische Accademia d'Arcadia und ein Jahr darauf in die Bologneser Accademia filarmonica aufgenommen wurde, stand er aber der Familientradition gemäß längst als angesehener Jurist in politischen Diensten für seine Heimatstadt. Der Musik blieb er freilich in Theorie und Praxis treu - ein nobile dilettante, der Hunderte von Solokantaten komponierte, mehrere Oratorien, Bühnenmusiken, neun Messen, Motetten und eine Reihe von Instrumentalwerken. Seine kompositorische Nebentätigkeit schränkte er allerdings im letzten Lebensjahrzehnt ein, das ihn als Verwalter nach Pola in Istrien und schließlich als Schatzmeister nach Brescia brachte - dort starb er 1739 im Alter von 53 Jahren.

Zu seinem großen musikalischen Vermächtnis wurde der Estro poetico-armonico ("Poetisch-harmonische Eingebung"), die Vertonung der ersten 50 biblischen Psalmen in der italienischen Textfassung seines Freundes Girolamo Ascanio Giustiniani. Marcello komponierte die Werke zwischen 1724 und 1726, bis 1728 veröffentlichte er sie in acht Folgen im Druck. Noch hundertfünfzig Jahre später schätzte man sie europaweit, dank ihrer unaufwändigen Besetzung (sie verlangen höchstens vier Singstimmen und als instrumentale Begleitung fast ausnahmslos nur den Generalbass), dank der Zeitlosigkeit ihrer Texte und nicht zuletzt dank ihrer musikalischen Originalität. Denn höchst flexibel folgt Marcello der madrigalähnlichen Textvorlage, bedient sich je nach Erfordernis arioser oder rezitativischer Gestaltungsmittel, nutzt harmonische Schärfen und Chromatismen sowie kontrapunktische Figuren zur Textinterpretation. Akademisch muten Marcellos ausführliche Vorworte zu den einzelnen Teilen an, in denen er die Tradition des Psalmgesangs bis in biblische Zeiten zurückverfolgt, um daraus Erkenntnisse für eine adäquate zeitgenössische Kompositionsweise abzuleiten. Musikalisch beeindrucken nicht zuletzt seine Anleihen am jüdischen Synagogalgesang spanischer und deutscher Herkunft, wie er ihn offenbar durch Kontakte zum kulturell blühenden venezianischen Ghetto kennengelernt hatte. So basiert etwa der letzte Vers des 10. Psalms auf den Intonazioni degli Ebrei tedeschi ("Intonationen der deutschen Juden"), die Marcello direkt darüber in römischer Choralnotation mitteilt, mit hebräischen Buchstaben unterlegt und entsprechend von rechts nach links zu lesen: Im Charakter eines volkstümlichen Tanzes erklingt die Weise unisono im Sopran und Tenor, während Alt, Vokal- und Instrumentalbass eine gemeinsame weitere Stimme hinzufügen.

Im musikalischen Diskurs meldete sich das Akademie-Mitglied Marcello zweimal literarisch zu Wort - übrigens beide Male anonym. Seine 1720 gedruckte Satire Il teatro alla moda nahm die Auswüchse des zeitgenössischen Opernwesens aufs Korn. Einige Jahre zuvor hatte er seine spitze Feder gegen Antonio Lotti gerichtet, der seine musikalische Ausbildung an Venedigs Markusdom erhalten hatte, dort seit 1704 als Erster Organist amtierte und später, 1736, noch zum Kapellmeister ernannt wurde. In einer irgendwann zwischen 1711 und 1716 gedruckten 86-seitigen Streitschrift setzte sich Marcello unter dem Titel Lettera familiare d'un accademico filarmonico et arcade kritisch mit den ersten elf von Lottis achtzehn Duetti, terzetti, e madrigali a più voci auseinander, die 1705 erschienen waren. Wie in so manchem seiner vielen Kirchenwerke, so hatte sich Lotti auch hier, im weltlichen Metier, einer älteren Form bedient, diese aber durchaus neuartig gefüllt - ganz so wie sein Amtsvorgänger Monteverdi Jahrzehnte zuvor in seinen späten Madrigalbüchern. Die expressive Tonsprache der zwei- bis fünfstimmigen Sätze mit ihrer teilweise selbstständigen Continuo-Stimme stieß auf die Kritik Marcellos. Illustriert durch mehr als hundert Notenbeispiele, monierte er u.a. Lottis kühne Dissonanzbehandlung, manche Imitationsfolge der Stimmen, den ausgedehnten Gebrauch von Terzketten und ungewöhnliche Harmoniefolgen. Entsprang die Rüge Marcellos ästhetischen Maximen oder vielleicht doch persönlichen Animositäten gegenüber dem zwanzig Jahre älteren Lotti?
Die Beobachtungen Marcellos lassen sich an den Kompositionen hier und da zwar hörend nachvollziehen; das Gehörte beeindruckt aber eher in seiner sinnfälligen Textverdeutlichung, als dass es irritiert. Das scheinen auch andere Zeitgenossen Lottis so empfunden zu haben - anders wäre die Sammlung wohl auch gar nicht zustande gekommen: Die Aufführung eines Lotti-Madrigals durch den Wiener Vizekapellmeister Marc Antonio Ziani hatte nämlich das Gefallen Kaiser Leopolds I. gefunden, auf dessen Wunsch hin Lotti dann 1703 eine Reihe ähnlicher Werke übersandte (darunter alle im heutigen Konzert zu hörenden mit Ausnahme der Lontananza insopportabile); dem Inhalt entsprechend charakterisierte er sie in der Handschrift entweder als "amoroso" oder "morale". Die erweiterte Druckausgabe widmete Lotti dann Joseph I., der 1705 seinem verstorbenen Vater auf dem Kaiserthron gefolgt war. Die Wertschätzung der Madrigale Lottis noch Jahrzehnte nach seinem Tod wird trefflich dadurch belegt, dass der gestrenge Padre Giovanni Battista Martini, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die musikalische Autorität schlechthin, den fugierten Schlussteil von "A tromba di Marte" in seiner Kontrapunktlehre von 1774 als nachahmenswertes Beispiel abdruckte - so wie er andernorts mehrfach die Marcello-Psalmen rühmte.

Ob Marcello selbst in späteren Jahren seine Kritik an Lotti noch ebenso scharf formuliert hätte, wie er es als jugendlicher accademico filarmonico tat? Die Originalität seines Estro armonico-poetico spricht dagegen, mag sich sein rhetorischer Kompositionsstil auch stärker den klassischen Satzregeln verpflichtet fühlen als die barocke Ausdruckskunst des älteren Zeitgenossen. Für uns heute erscheinen Marcellos Psalmen und Lottis Madrigale in ihrer melodisch und harmonisch so reichen Musiksprache eher als zwei Seiten derselben Medaille - einer ob ihrer künstlerischen Einzigartigkeit besonders kostbaren.

behe

Mitwirkende

Cantus Cölln
Johanna Koslowsky, Sopran
Elisabeth Popien, Alt
Hans Jörg Mammel, Tenor
Wilfried Jochens, Tenor
Stephan Schreckenberger, Baß
Albert Brüggen, Violoncello
Carsten Lohff, Orgel
Ltg. Konrad Junghänel