Saison 2005/2006: Konzert 7

Sonntag, 2. April 2006 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Musicalische Frühlings=Früchte

Norddeutsche Triosonaten im Umfeld Dietrich Buxtehudes CordArte CordArte Sendung im Deutschlandfunk am 11.4.2006

"Die Liebe zur Saitenkunst" - so ließe sich der Namen des Ensembles CordArte poetisch deuten, das 1998 in Köln gegründet wurde. Einen Schwerpunkt seiner Arbeit legt das Streicherensemble auf die Königsgattung der Kammermusik, die Triosonate. Gerade sie hält im 17. und 18. Jahrhundert für die Besetzung von Violine, Viola da gamba und Basso continuo in Deutschland, England und Italien einen unermesslichen Reichtum an brillanter Literatur bereit. Komponistennamen wie Dietrich Buxtehude, Nikolaus Adam Strungk und Kaspar Förster verweisen die Werkauswahl in den Bereich des norddeutschen Barock und die Kompositionen selbst in die Sphäre des Stylus Phantasticus, der hält, was er zu sein verspricht: fantasievoll, klangsinnlich - reizvoll eben.

Programmfolge

Kaspar Förster (1616-1673) Sonate F-Dur »La Sidon“ für 2 Violinen, Viola da gamba und Basso continuo Johann Theile (1646-1724) Sonata duplex g-Moll à 3 für 2 Violinen, Viola da gamba und Basso continuo (Musicalisches Kunst-Buch, 1691) Dietrich Becker (1623-1679) Sonata III a-Moll für 2 Violinen, Viola da gamba und Basso continuo (Musicalische Frühlings-Früchte, Hamburg 1668) Dietrich Buxtehude (1637-1707) Triosonate c-Moll BuxWV 262 für Violine, Viola da gamba und Cembalo (Suonate à doi, violino & viola da gamba, con cembalo, Hamburg 1696) Ciacona e-Moll BuxWV 160 für Cembalo Sonate G-Dur BuxWV 271 für 2 Violinen, Viola da gamba und Basso continuo Pause Johann Adam Reincken (1643-1722) Sonate VI A-Dur für 2 Violinen, Viola da gamba und Basso continuo (Hortus musicus, Hamburg 1688) Nikolaus Adam Strungk (1640-1700) Sonate d-Moll für 2 Violinen, Viola da gamba und Basso continuo Dietrich Becker Sonata IV a-Moll für 2 Violinen, Viola da gamba und Basso continuo (Musicalische Frühlings-Früchte, Hamburg 1668) Kaspar Förster Sonate c-Moll für 2 Violinen, Violone und Basso continuo Dietrich Buxtehude Sonate F-Dur BuxWV 269 für 2 Violinen, Viola da gamba und Basso continuo

Phantastisches auf solidem Fundament

Im Jahr 1666 kam der holsteinische Theologe und Literat Johann Rist nach Hamburg, um »sich eine Freude mit der allda berühmten Musik zu machen«. Im Hause des Musikdirektors und Kantors am Johanneum, Christoph Bernhard, fanden sich daraufhin die engagierten und virtuosen Ratsmusiker der Hansestadt zu einem Collegium musicum zusammen und spielten dem würdigen Gast vor, was damals an Streichermusik en vogue war, darunter »eine schöne Sonata von Förstern, jun. mit 2. Violinen und 1. Violdagamba ... , darin jeder 8. Tact hatte, seine freien Einfälle hören zu lassen, nach dem Stylo phantastico.«
So berichtet es Johann Mattheson in seiner musikbiographischen Grundlage einer Ehren-Pforte von 1740. Dabei bedient er sich zur Charakterisierung der Komposition eines Begriffs, den neunzig Jahre zuvor in Rom der deutsche Jesuit Athanasius Kircher in die musikalische Stillehre eingeführt hatte, innerhalb seiner enzyklopädischen Musurgia universalis: Phantasticus Stylus, das sei eine den Instrumenten vorbehaltene Kompositionsweise, harmonisch und rhythmisch ungebunden, so recht geeignet, das Genie des Spielers unter Beweis zu stellen. Mattheson hatte dem 1739 in seiner Lehrschrift Der Vollkommene Capellmeister teilweise widersprochen, indem er den phantastischen Stil nicht nur den Instrumenten, sondern auch den Sängern zubilligte -- und sehr wohl eine Bindung an die harmonischen Grundlagen forderte. Das beließ der individuellen Gestaltung immer noch reichlich Spielräume, »da allerhand sonst ungewöhnliche Gänge, versteckte Zierrathen, sinnreiche Drehungen und Verbrämungen hervorgebracht werden, ohne eigentliche Beobachtung des Tacts und Tons, ... ohne förmlichen Haupt-Satz und Unterwurff, ohne Thema und Subject, das ausgeführet werde; bald hurtig bald zögernd; bald ein- bald vielstimmig; bald auch auf eine kurtze Zeit nach dem Tact; ohne Klang-Maasse; doch nicht ohne Absicht zu gestalten, zu übereilen und in Verwunderung zu setzen.«
Seine eigentliche Wirkung entfaltete der Stylus phantasticus freilich erst im Kontrast mit rhythmisch oder kontrapunktisch »gebundenen« Sätzen -- etwa im Wechsel mit akkordisch strukturierten Tänzen oder fugischen Imitationen. Die Reihung kontrastierender Abschnitte ist daher ein Kennzeichen Instrumentalkunst des 17. Jahrhunderts, die sich von vokalen Vorlagen mehr und mehr emanzipiert hatte und in kraftvollen Farben erblühte. Sie bildet das zwanglose Gestaltungsprinzip für die Ricercare und Toccaten der Tasten- und Zupfinstrumente und für die Solo- und Ensemble-Sonaten, in denen sich die Oberstimmen auf dem harmonischen Fundament des Basso continuo in der Vordergrund spielen dürfen.

Mit einem besonderen Kompliment bedachte Johann Rist nach der ihm gewidmeten Aufführung den Violinisten Samuel Peter von Sidon, damals ein aussichtsreicher Kandidat, um den eine Generation älteren Johann Schop in der Führung der Hamburger Ratsmusik abzulösen. Nach 1667, dem Todesjahr Schops, übernahm allerdings Sidons Kollege Dietrich Becker die Leitung. Der mag aus dem Elan des Karrieresprungs heraus und im Wissen um die Progressivität der eigenen Violinkunst den Titel für seinen Sonatendruck gewählt haben, der im Jahr darauf erschien: Musicalische Frühlings-Früchte. Auch hier ist die Besetzung mit zwei Violinen, Viola da gamba und Continuo prominent vertreten. Wobei die Gambe als virtuoses Instrument in tieferer Lage zwischen den duettierenden Oberstimmen und der harmoniefüllenden Begleitung durch Cembalo, Orgel oder Laute vermittelt, indem sie im Prinzip der Fundamentstimme folgt, sich dabei aber Umspielungen erlaubt und gelegentlich auch solistische Episoden. Es mag ein Zufall sein -- jedenfalls verliert sich nahezu zeitgleich mit dem Aufstieg Beckers die Spur seines Kollegen Sidon. Diesem hatte allerdings Kaspar Förster, der musikalische Weltmann aus Danzig mit römischer Ausbildung, schon Jahre zuvor ein Denkmal gesetzt: mit der Sonate La Sidon, die das heutige Konzert eröffnet. Kennen gelernt hatten sich Förster und Sidon wohl in Kopenhagen am Königshof Friedrichs III. Dort amtierte Förster als Kapellmeister zwischen 1652 und 1655 und noch einmal von 1661 bis 1667. Sidon übernahm zeitweise die Leitung der Kapelle, während Förster auf Seiten Venedigs im Krieg gegen die Türken militärischen Ruhm erntete und zum »Ritter von San Marco« geschlagen wurde. Förster mag La Sidon 1661 komponiert haben, als er vor der Rückkehr nach Kopenhagen bei dem inzwischen in Hamburg wohnenden Kollegen zu Gast war. Wie die beiden anderen Sonaten Försters, die heute erklingen, könnte sie aber ebenso gut schon Jahre zuvor für die königliche Kammer in Kopenhagen entstanden sein.
Eine ähnlich bewegte Musikerkarriere wie Förster erlebte Nikolaus Adam Strungk. Bevor er 1679 Dietrich Becker als Leiter der Hamburger Ratsmusik beerbte, hatte er bereits als erster Violinist an den Hofkapellen von Wolfenbüttel, Celle und Hannover gewirkt, zwischen 1661 und 1665 in Wien gelebt und dort Kaiser Leopold I. mit seiner Kunst nachhaltig beeindruckt. Vier Jahre blieb er in dann Hamburg und fügte sich dort, wie seine heute zu hörende d-Moll-Sonate belegt, ohne Mühe ins anspruchsvolle Streicher-Idiom der Ratsmusik ein. Danach führte ihn sein Weg wieder nach Hannover, später nach Italien und noch einmal nach Wien, bevor er von 1688 an als Vizekapellmeister und später als Kapellmeister in Dresden wirkte und von da aus 1693 die Leipziger Oper gründete.

Der Generation Strungks gehören auch jene drei Komponisten an, die der Maler Johannes Voorhout 1674 in Hamburg mutmaßlich in seiner als Allegorie auf die Freundschaft gedeuteten Musizierszene vereint hat: Johann Adam Reincken (am Cembalo), Johann Theile und Dietrich Buxtehude (wer von beiden die Gambe spielt und wer mit dem Notenblatt auf den Knien der Musik lauscht, ist umstritten). Vom Hamburger Katharinen-Organisten Reincken nahm man allerdings bis vor kurzem noch an, er sei zwanzig Jahre früher geboren und wäre deshalb als nahezu Hundertjähriger Johann Sebastian Bach mit lobenden Worten entgegen getreten, als der sich 1720 in der Hansestadt mit einer improvisierten Choralphantasie für das Amt des Jacobi-Organisten empfahl. Bach wiederum reizten einige der Streichersonaten und Suiten aus dem Hortus Musicus zur Bearbeitung fürs Cembalo. Diese erste und auch einzig erhaltene seiner Druckpublikationen veröffentlichte Reincken 1688; dass er sich im Vorwort mit dem fiktiven Titel eines director organi schmückte, spricht ebenso für sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein wie der extravagante Morgenmantel, den er auf dem Gemälde trägt.
Theile, zur Entstehungszeit des Bildes noch Kapellmeister an der holsteinischen Residenz Gottorf, ist als »Vater der Kontrapunktisten« in die Musikgeschichte eingegangen. Dies vor allem dank seines in zahlreichen Kopien kursierenden Musicalischen Kunst-Buches von 1691, einer handschriftlichen Sammlung, in der der letzte Meisterschüler von Heinrich Schütz anhand eigener Kompositionen die Kombinationskünste des doppelten Kontrapunkts vorführt. Dass darüber der Melodiker Theile nicht vergessen werden sollte, dessen Adam und Eva 1678 die Hamburger Gänsemarkt-Oper eröffnete, unterstreicht die heute zu hörende Sonata duplex. »Zwei Subjecta, und dieselben wiederum verkehret / können noch einmal aus diesen werden angehöret«, so lautet Theiles Kommentar dazu im Kunst-Buch. Doch kann man der Sonate auch ohne das Wissen ums kontrapunktische Kalkül mit sinnlichem Vergnügen lauschen.
Dem Beispiel seines Kollegen und Freundes Reincken folgte Buxtehude, Marienorganist in Lübeck, als er 1694 bzw. 1696 in Hamburg je ein Opus mit VII. Suonate à doi, violino & violadagamba, con cembalo herausgab. Buxtehude war bei seinen Zeitgenossen vor allem als Orgelvirtuose und als Komponist prachtvoller Vokalmusik berühmt. Seine heute Abend erklingenden Werke beleuchten einmal die schöpferische Bandbreite seiner kammermusikalischen Kompositionstechniken: Die c-Moll-Sonate aus Opus 2 rückt den schon durch das Wechselspiel der Klangfarben so reizvollen Dialog zwischen Violine und Gambe ins Blickfeld, die Ciacona konzentriert sich am Tasteninstrument auf die Variationsmöglichkeiten, die sich nach dem Vorbild alter Tanzformen aus den Harmoniefolgen über einer grundsätzlich gleichbleibenden Bass-Linie gewinnen lassen. Die nur handschriftlich überlieferte G-Dur-Sonate bietet in konzertanter Manier wiederum jeder der beiden Violinen ein Podium fürs virtuose Solospiel -- ein Prinzip, das die F-Dur-Sonate am Ende der Programmfolge noch einmal steigert, indem sie die Gambe gleichberechtigt ins solistische Spiel mit einbezieht.

behe

Mitwirkende

CordArte
Daniel Deuter, Margret Baumgartl - Violinen
Heike Johanna Lindner - Viola da gamba
Andreas Arend - Theorbe
Markus Märkl - Cembalo und Orgel