Saison 2007/2008: Konzert 2

Sonntag, 21. Oktober 2007 Deutschlandfunk, Kammermusiksaal 17 Uhr

Dietrich Buxtehude

Membra Jesu nostri Cantus Cölln Ltg. Konrad Junghänel Cantus Coelln Sendung im Deutschlandfunk am 30.10.2007 Gefördert vom Landschaftsverband Rheinland

Das Buxtehude-Jahr 2007 zum 300. Todestag des Lübecker Meisters ist für Konrad Junghänel und sein Ensemble Cantus Cölln willkommener Anlass, sich noch einmal intensiv mit diesem kühnen Protagonisten des musikalischen Barock zu befassen, speziell mit seinem außergewöhnlichen Vokalzyklus »Membra Jesu nostri«: Erstmals in der deutschen Musikgeschichte widmet sich hier eine Komposition derart umfassend der Meditation über den am Kreuze hängenden Heiland – ein eindrucksvolles Zeugnis pietistischer Innbrunst und Leidensmystik. Erst die solistische Aufführungspraxis von Cantus Cölln wird dabei Buxtehudes musikalischem Sinn für die Spiritualität der Texte vollends gerecht.

Programmfolge

Dietrich Buxtehude (1637-1707)

Die Texte und ihre Übersetzungen in finden Sie auf einer separaten Seite als Pdf-Datei.

»Herzlich lieb hab ich dich, o Herr« BuxWV 41
Choralkantate für 2 Soprane, Alt, Tenor, Bass,
2 Violinen, 2 Violen und Basso continuo

Membra Jesu nostri BuxWV 75
Kantatenzyklus für 2 Soprane, Alt, Tenor, Bass,
2 Violinen, 2 Violen und Basso continuo

I. Ad pedes »Ecce super ad montes«
II. Ad genua »Ad ubera portabimini«
III. Ad manus »Quid sunt plagae istae«

Pause

IV. Ad latus »Surge amica mea«
V. Ad pectus »Sicut modo geniti infantes«
VI. Ad cor »Vulnerasti cor meum«
VII. Ad faciem »Illustra faciem tuam«

Pdf-Download: Gesangstexte und Übersetzungen

Resonanzen meditativer Frömmigkeit

Wer sich heute ein Bild vom Inneren der Lübecker Marienkirche zu Lebzeiten Dietrich Buxtehudes, ihres größten Musikers, machen möchte, dem dürfte das nicht so leicht fallen. Denn vieles, was die Jahrhunderte überdauert hatte, ohne etwa vom Meinungswandel in theologischen oder ästhetischen Fragen berührt zu werden, ging im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs für immer verloren. Historische Beschreibungen und Abbildungen mögen ein wenig dazu beitragen, dass sich vor dem inneren Auge des Betrachters noch einmal die kraftvolle Wirkung des Raumes entfalten kann, wie er sich im 17. Jahrhundert aus dem Zusammenwirken von gotischer Backsteinarchitektur und reicher sakraler Ausstattung ergab - eine Atmosphäre, die gleichermaßen geschaffen war für die Pracht feierlicher Liturgien und die Intimität persönlicher Andacht. Als Stadtkirche am Markt und neben dem Rathaus hatte die Marienkirche schon immer als Versammlungsort der Ratsherren gedient, auch für einen Teil der Amtsgeschäfte; 1530 wurde sie anstelle des Doms gar zur Hauptkirche der Stadt, da mit der Reformation der Rat das Kirchenregiment übernommen hatte. Die Ratsherren, die in Lübeck traditionell aus der Kaufmannschaft stammten, sahen freilich keinen Grund, unter den neuen konfessionellen Vorzeichen die prachtvolle Inneneinrichtung mit den vielen kostbaren Altären, Kruzifixen, Heiligenfiguren, Gemälden und Epitaphen zu entfernen, die ihre eigenen Familien einst gestiftet hatten. Die Theologie Martin Luthers gab solchem Traditionalismus ausreichend Raum, ebenso wie sie manche liturgische Form der römischen Kirche beibehielt, und das mitunter sogar in der lateinischen Liturgiesprache.

Vieles davon klingt in den Werken nach, die der aus dem dänisch regierten Holstein stammende Buxtehude als ranghöchster Musiker Lübecks komponierte, von der Ernennung zum Marienorganisten 1668 bis zu seinem Tod 1707. Lateinische Psalmen- und Hymnen-Vertonungen stehen in seinem Œuvre künstlerisch gleichberechtigt neben deutschen Choral-Konzerten und Bibelwort-Kantaten. Auch der formal und kompositorisch außergewöhnlichste Beitrag Buxtehudes zum geistlichen Vokalrepertoire bedient sich der lateinischen Sprache: der siebenteilige Kantaten-Zyklus Membra Jesu nostri, eine meditierende Betrachtung des am Kreuz hängenden Christus. Jede der Kantaten ist einem Körperteil gewidmet, wobei sich der Blick des offenbar vor dem Kreuz knienden Betrachters allmählich aufrichtet, zunächst zu den Füßen, dann zu den Knien, den Händen, der Seite, der Brust, dem Herz und schließlich dem Angesicht Jesu. Die spirituellen Reflexionen dazu sind der Rhythmica Oratio entnommen, einer mittelalterlichen Hymnenfolge, die wegen ihrer Christusmystik dem Heiligen Bernhard von Clairvaux (1091-1153) zugeschrieben wurde. Vermutlich stammt sie aber aus der Feder des Mönchs Arnulf von Löwen, der ebenfalls dem Zisterzienser-Orden angehörte und in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts lebte. Solche Manifestationen persönlicher Frömmigkeit, die oft über die Liebeslyrik aus dem Hohelied Salomos zu einer regelrechten Jesus-Minne fanden, stießen auch im 17. Jahrhundert noch in beiden christlichen Konfessionen auf große Resonanz in Dichtung und Lied. Paul Gerhardts Passionschoral O Haupt voll Blut und Wunden von 1656 ist das bekannteste Beispiel für eine deutsche Reimfassung der Rhythmica Oratio, seine Altersgenosse Johann Rist hatte bereits acht Jahre zuvor in Hamburg seine Übertragung veröffentlicht: Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführte und an das Kreutz geheftete Christus Jesus / In wahrem Glauben und Hertzlicher Andacht besungen.

Buxtehudes Textvorlage bedient sich nun zu jeder der sieben Betrachtungen einer pointierten Strophenauswahl des mittelalterlichen Hymnus in der Originalfassung. Jeder Betrachtung ist jedoch - ähnlich der Antiphon zu einem Psalm und doch ganz nach protestantischer Manier - ein korrespondierendes kurzes Bibelzitat vorangestellt. Ob nun Buxtehude selbst die Texte aussuchte oder ihm ein Theologe diese Arbeit abnahm: die Vorgehensweise ermöglichte die Vertonung jedes Teils in Form einer Concerto-Aria-Kantate. So komponierte Buxtehude die Bibelzitate als konzertierende Sätze für mehrere Singstimmen und Instrumente, während er die Hymnen-Strophen als arios-liedhafte Vokalsoli mit Continuobegleitung gestaltete und dazwischen gliedernde Instrumentalritornelle einfügte. Einer rahmenden Fassung dient die Wiederholung der eröffnenden Bibelwort-Sätze am Ende der einzelnen Teile; die Amen-Vertonung als Beschluss der siebten Kantate bekräftigt die geschlossene Form des Ganzen.

Natürlich ist es nicht allein die formale Gestaltung, die die Membra Jesu nostri aus dem kirchenmusikalischen Repertoire der Zeit heraushebt. Buxtehude findet für den intimen, persönlich reflektierenden Text eine einmalig ausgewogene Musiksprache; an die Stelle schroffer Kontrastrhetorik treten hier die (wie es Martin Geck formuliert) »milden Leidenstöne« einer abgeklärten Versenkung in das Erlösungswerk des Gekreuzigten - und das mit einer Expressivität, wie sie kaum wirkungsvoller durch größere instrumentatorische Effekte oder ausgedehntere Dissonanzreihungen nach Madrigalmanier zu erreichen wäre.

Nicht ganz zu klären ist heute, ob Buxtehude seinen außergewöhnlichen Passionszyklus in erster Linie für Lübeck schrieb oder aber für die Zuhörer des schwedischen Hofkapellmeisters und Organisten der Deutschen Kirche in Stockholm, Gustav Düben (ca. 1628 - 1690). Denn ihm, dem »verehrungswürdigsten Freunde«, hat Buxtehude 1680 seine handschriftliche Tabulaturnotation des Werks gewidmet. Wie das von Düben hergestellte Stimmenmaterial der Membra wird sie heute in der Universitätsbibliothek Uppsala verwahrt, als Teil jener Sammlung von ca. 1.500 Vokal- und 300 Instrumentalwerken, die der Stockholmer Musiker für eigene Aufführungszwecke anlegte und durch die so viele Werke Buxtehudes und weitere bedeutender Komponisten aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vor dem Vergessen bewahrt wurden. Mit Sicherheit erklangen die Membra also in den 1680er Jahren in Stockholm, sei es in der deutschen lutherischen Gemeinde oder in der Kapelle des calvinistisch reformierten schwedischen Königshofes, den man als eine frühe Hochburg der protestantischen Frömmigkeitsbewegung des Pietismus ansehen kann.

Nur einige wenige Kompositionen Buxtehudes haben dagegen in Lübeck selbst die Zeitläufte überdauert. Zu ihnen zählt die Choralkantate Herzlich lieb hab ich dich, o Herr. Hier vertont Buxtehude einen dreistrophigen Kirchenliedtext Martin Schallings aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, ein frühes Beispiel für nachreformatorische Jesus-Minne aus dem fränkischen Raum. Buxtehude entfernt sich in seiner Komposition Strophe für Strophe weiter von der tradierten Liedmelodie: Ist sie zunächst als Cantus firmus des Soprans in einen sonatenartigen Streichersatz integriert, dienen im Folgenden die Aussagen der Verszeilen als Inspiration für individuelle freiere Kompositionsweisen in der vielgestaltigen Concerto-Form für fünf Singstimmen und Instrumente. Ob sie nun in Lübeck oder Stockholm gesungen wurden, in einer lutherischen Stadtkirche oder einer calvinistischen Hofkapelle, in lateinischer oder in deutscher Sprache: An den heute Abend vorgestellten Kompositionen wird deutlich, in welch einzigartiger Weise Buxtehude musikalisch auf offensichtlich weit verbreitete Bedürfnisse nach frommer Betrachtung und Versenkung eingehen konnte. Wenn sich im vergangenen Mai auch der Todestag des Lübecker Meisters zum 300. Male jährte, so haben diese Werke doch bis heute nichts von ihrer eindringlichen Wirkung verloren.

behe

Mitwirkende

Cantus Cölln
Ltg. Konrad Junghänel

Die Instrumentalgruppe von Cantus Cölln musiziert heute in folgender Besetzung:

Anette Sichelschmidt, Christine Moran - Violine
Friederike Kremers, Volker Hagedorn - Viola
Matthias Müller - Violone
Carsten Lohff - Orgel