Saison 2007/2008: Konzert 8

Sonntag, 18. Mai 2007 17 Uhr Deutschlandfunk, Kammermusiksaal

Alessandro Melani

Kantate »Europa« und geistliche Vokalwerke Veronika Winter, Cornelia Samuelis, Sopran Kai Wessel, Altus Benoît Haller, Tenor Ekkehard Abele, Bass Das Kleine Konzert Ltg. Hermann Max Hermann Max Sendung im Deutschlandfunk am 3.6.2008

»Plötzlich stand die phönizische Prinzessin Europa beim Blumenpflücken einem stattlichen Stier gegenüber, der den Wellen des Mittelmeeres entstiegenen und so anziehend war, dass sich die Schöne auf dessen Rücken bereitwillig übers Meer nach Kreta bringen ließ. Dort stellte sie voller Erstaunen fest, dass der Stier sich in Zeus verwandelte, der zu ihr in feuriger Liebe entbrannt war ...« – Alessandro Melani, neben Bernardo Pasquini und Alessandro Scarlatti bedeutendster Komponist im Rom des späten 17. Jahrhunderts, erweist sich in seiner Mini-Oper »Europa« als höchst phantasievoller Komponist. Mit geistlichen Werken und Instrumentalmusik runden Hermann Max, seine Gesangssolisten und sein Instrumentalensemble Das Kleine Konzert ihr Porträt des Meisters ab.

Programmfolge

Alessandro Melani (1639-1703)
Magnificat
für 2 Soprane, Alt, Tenor, Bass und Basso continuo

Bernardo Pasquini (1637-1710)
Sonate F-Dur
für zwei bezifferte Bässe

Alessandro Melani
»Europa«
Introduzione zu einer Festa teatrale
für Sopran, Alt, Bass, 2 Violinen (Blockflöten), 2 Violen und Basso continuo

Pause

Alessandro Melani
Requiem
für 2 Soprane, Alt, Tenor, Bass, 2 Violinen, Viola und Basso continuo

Bernardo Pasquini
Sonate c-Moll
für zwei bezifferte Bässe

Alessandro Melani
Nunc dimittis
für 2 Soprane, Alt, Tenor, Bass und Basso continuo

Beatus vir
für 2 Soprane, Alt, Tenor, Bass, 2 Violinen (Blockflöten), 2 Violen und Basso continuo

Pdf-Download: Gesangstexte und Übrsetzungen

Musik für Kaiser und Papst

Europa ist in unserem kulturellen Gedächtnis eine Frau, eine Prinzessin aus Phönizien, dem heutigen Libanon. Als sie eines herrlichen Tages von Nymphen begleitet auf einer schattigen Wiese Blumen pflückt, entbrennt Göttervater Zeus vor Begehren und ersinnt eine List. Denn weder will er seine eifersüchtige Frau auf ein neues Abenteuer aufmerksam machen, noch kann eine Sterbliche den Anblick des Gottes in seiner wahren Gestalt unbeschädigt aushalten. Und so verwandelt er sich in einen weißen Stier. Aus seinen Nüstern atmet er Krokusse, und als Europa diese pflückt, fällt sie dem Stier anheim. Auf seinem Rücken trägt er die Schöne nach Kreta, wo sie ihm drei Söhne schenkt. Zur Tarnung seiner Begierden hat er sie mit König Asterios verkuppelt. Doch was die Welt für Königssöhne hält, sind in Wirklichkeit Götterkinder. Griechenlands erster großer Philosoph, Hesiod, formuliert im 7. Jahrhundert v. Chr. den Mythos von der schönen Europa zum ersten Mal. Spätere Dichter werden immer neue Versionen der Geschichte erfinden.

Interessanterweise gibt es in der so mannigfaltigen und umfassenden Themensammlung barocker Opern fast kein Beispiel für die Umsetzung des Europa-Mythos. Abgesehen von John Ernest Galliard, einem Händel-Zeitgenossen, der Europas Entführung als Farce mit Harlekinen und Clowns verulkt, haben die Komponisten einen weiten Bogen um die Prinzessin gemacht. Mit einer Ausnahme: Alessandro Melani. Der 1639 in Pistoia geborene Italiener entstammte einer wichtigen Musikerfamilie - einige seiner Brüder feierten europaweit Triumphe als Kastraten. Melani selbst wurde vor allem berühmt durch die erste Vertonung des »Don-Giovanni«-Stoffes, die uns bekannt ist. Heute jedoch ist er fast vergessen, wie viele Komponisten seiner Generation. Dabei beherrscht er sein Handwerk vorzüglich, wechselt Da-capo-Arie und Strophenarie virtuos und versteht sich überlegen auf die ganze Bandbreite der dramatischen Bühnensprache.

Wir wissen nicht genau, zu welchem Anlass Melani 1667 »L'Europa« schrieb. Allerdings ist dieses Jahr ein bedeutsames für den Wiener Hof. Denn Margarita Teresa, die Infantin von Spanien und erste Frau des Kaisers Leopold I., bekommt den ersten Sohn, den sehnlich erwarteten Thronfolger Ferdinand Wenzel. Tragischerweise stirbt das Kind später. Aber 1667 ist Wien, trotz der immer drückender werdenden Bedrohung durch die Türken und die machtpolitischen Ränkespiele Ludwigs XIV. von Frankreich, auf Feiern eingestellt. Und das könnte sehr wohl auch der Anlass zur Komposition des nach heutiger Kenntnis ersten weltlichen Werkes von Alessandro Melani gewesen sein, das die Zeiten überdauerte. Das prächtige Manuskript von Melanis »L'Europa« wird noch heute in der Wiener Nationalbibliothek aufbewahrt, eine weitere Abschrift ist nicht bekannt. Und dort ist auch vermerkt, dass es für »Una festa teatrale« bestimmt war. Wahrscheinlich leitete das Stück eines der großen Rossballette ein, die bei Hofe so beliebt waren und die zu Ehren der Geburt des Thronfolgers abgehalten wurden.

Formal betrachtet, ist das Stück keine vollgültige, abendfüllende Oper, sondern eine große Serenata. Nach einer langen zweiteiligen Sinfonie betritt Amor die Bühne, der wieder einmal behauptet, die Welt zu regieren. Nachdem er die keusche Diana mit Endymion verkuppelt und auch den Kriegsgott Mars in Wallungen versetzt hat, sei nun Jupiter an der Reihe. Und schon taucht der Stier aus dem Meer auf und schleppt Europa an Land. Die ist verständlicherweise tief verstört, denn sie fürchtet sich vor dem Monstrum und fleht den Himmel um Rettung an. Melani komponiert dafür ein ergreifendes Lamento, das jeder Opera seria zur Zierde gereichen würde. Schließlich offenbart sich Jupiter, indem er sich zu einem Menschen verwandelt. Täppisch umwirbt er die Schöne, Melani nutzt die Gelegenheit, die Karikatur eines Tanzes zu schreiben, die die unsittlichen Absichten des Gottes deutlich hörbar macht. Kein Wunder, dass sich Europa nicht bezirzen lässt. Auch Amor, der nun seine Überzeugungskräfte probiert, scheitert an der Prinzessin. Und selbst als Jupiter deutlich brutalere Töne anschlägt, erreicht er nur, dass ihre Gegenwehr noch stärker wird. Fast hochmütig fordert sie den Gott zum Kampf heraus, bis sie endlich von einem Liebespfeil Amors niedergestreckt wird. Und plötzlich ist alles anders: die eben noch Spröde schmilzt dahin und wirft sich in die Arme des Gottes, während Amor triumphiert.

Die Botschaft scheint klar: Der Kaiser selbst ist der göttliche Jupiter, der ganz Europa durch die Macht der Liebe unterwirft und eint. Durch die Geburt eines Thronfolgers ist die Ordnung Europas gesichert und der Kaiser siegt. Doch Melani belässt es keineswegs bei dieser rein machtpolitischen Metapher. Er vermag es, wunderbar die Haltungen zu wechseln: eben noch ernst, lässt er ironische, ja komische Töne aufblitzen. Das macht den Meister aus. Er verrät seine Figuren nicht, indem er sie etwa lächerlich machte, sondern er nimmt den Mythos ebenso ernst wie die politische Symbolik. Und da ist ein Gott als Stier nun mal gleichermaßen erhaben, wenn er sich aus dem Meer erhebt, wie komisch, wenn er galant um eine Jungfrau wirbt. So schenkt uns Melani ein kleines, zu Unrecht vergessenes Meisterwerk.

Thomas Höft

Im gleichen Jahr 1667, in dem er »L'Europa« für Wien schrieb, glückte Melani in der Heimat ein bedeutender Karrieresprung: Er wurde im Oktober Kapellmeister an S. Maria Maggiore in Rom, der bevorzugten Hauptkirche des neu gewählten und ebenfalls aus Pistoia stammenden Papstes Clemens IX. Fünf Jahre später, nach dem Tod dieses Papstes, wechselte Melani in gleicher Funktion an die Kirche S. Luigi de Francesi. So verwundert es nicht, dass er nun sein Hauptaugenmerk auf liturgische Kirchenwerke richtete. Zwischen 1670 und 1698 veröffentlichte er in Rom vier Drucke mit Motetten und geistlichen Konzerten. Davon ist das Opus 4 zwar heute verschollen; andererseits haben sich viele seiner lateinischen Kompositionen in handschriftlichen Quellen erhalten. Einige davon gingen Anfang des 19. Jahrhunderts in der umfangreichen Manuskriptsammlung des römischen Priesters und Musikers Fortunato Santini auf. Diese Sammlung gelangte nach dessen Tod 1862 in das Eigentum des Bistums Münster und schließlich in die dortige Universitätsbibliothek. So finden sich in Münster auch die beiden Manuskripte mit den vier lateinischen Kompositionen, die im heutigen Konzert die dramatische Kantate für das Wiener Kaiserhaus umrahmen.

Die eine Handschrift enthält zwei Vertonungen, die sich mit dem Themenkreis von Tod und Vollendung auseinandersetzen: Das kurze, nur vom Basso continuo begleitete »Nunc dimittis« versinnbildlicht mit vielen Dur-Harmonien und »Terz-Seligkeiten« die Gelöstheit des greisen Simeon. Von ihm heißt es im Lukas-Evangelium, dass er erst in dem Moment sein Leben friedlich beschließen konnte, da er im Tempel von Jerusalem den Jesusknaben als verheißenen Messias erkannte. Für seine »Requiem«-Vertonung hat Melani aus der Liturgie der Totenmesse jene Gesänge ausgewählt, die zwischen den Bibellesungen des Wortgottesdienstes stehen - das Graduale »Requiem aeternam«, den Tractus »Absolve Domine« und die Sequenz »Dies irae«, deren apokalyptische Visionen dann auch im Zentrum der Komposition stehen. Hier tritt der instrumentale Oberstimmensatz bisweilen aus der Begleiterrolle heraus, um dem Szenarium vom Jüngsten Tag ein besonders pointiertes musikalisches Profil zu verleihen.
Mit dem Psalm »Beatur vir« und dem »Magnificat«, dem Lobgesang der Maria aus dem Lukas-Evangelium, sind in der zweiten Handschrift Kompositionen zur musikalischen Ausgestaltung eines Vespergottesdienstes vereint. Im Magnificat, das wieder nur von den Bassinstrumenten begleitet wird, beeindruckt die Wandlungsfähigkeit des Vokalsatzes, in dem sich die bilderreichen Aussagen des hymnischen Textes entfalten. Die Verse der Psalmvertonung werden durch instrumentale Vor- und Zwischenspiele gegliedert, die in der Regel die Motivik der folgenden Singstimmeneinsätze vorgeben.

In engem Zusammenhang mit der liturgischen Improvisationspraxis der Organisten stehen die beiden Sonaten Bernardo Pasquinis, die im heutigen Programm als instrumentale Intermezzi dienen. Der große Orgel- und Cembalomeister, der zur gleichen Zeit wie Melani in Rom wirkte, hat zu diesen Werken nur zwei bezifferte Generalbassstimmen notiert. Damit ist der harmonische und in Ansätzen auch der melodische Verlauf der Komposition festgelegt, die mehrstimmige Ausgestaltung wird aber den Ausführenden überlassen. »Partimento« nannte man damals solche Musik für Generalbass solo. Pasquinis Sonaten lassen deren ursprünglichen Charakter als Übungsaufgaben für Continuospieler und Kompositionsschüler denkbar weit hinter sich und präsentieren sich als veritable Virtuosenstücke.

behe

Mitwirkende

Veronika Winter, Sopran
Cornelia Samuelis, Sopran
Kai Wessel, Altus
Benoît Haller, Tenor
Ekkehard Abele, Bass

Das Kleine Konzert
Ltg. Hermann Max

Das Kleine Konzert spielt heute in folgender Besetzung:
Blockflöte: Carin van Heerden, Reinhild Waldek
Violine: Ulla Bundies, Anette Sichelschmidt
Viola: Florian Schulte, Friederike Kremers
Violone: Hartwig Groth
Dulzian: Jennifer Harris
Harfe: Johanna Seitz, Reinhild Waldek
Theorbe: Michael Freimuth
Cembalo, Orgel: Christoph Lehmann