Saison 2008/2009: Konzert 3
Mein Herz ist bereit
Deutsche Kantaten und Kammermusik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts von Johann Philipp Krieger, Franz Tunder, Johann Heinrich Schmelzer, Heinrich Ignaz Franz Biber, Johann Pachelbel, Dietrich Buxtehude u.a. Peter Kooij - Bass CordArte Sendung im Deutschlandfunk am 2.12.2008Denn ein Teutscher hat diesen Vortheil von der gütigen Natur, daß er zur Elaborirung einer Sache tausendmahl so viel Gedult besitzet, als jemand auff der Welt«, konstatierte 1713 der Musikpublizist Johann Mattheson. In der Tat: Landauf landab entwickelten die deutschen Organisten, Kantoren und Hofkapellmeister seinerzeit weiter, was sie bei ihren auswärtigen Kollegen kennengelernt hatten. Dem engen Beziehungsgeflecht von Schülern und Lehren, Freunden und Konkurrenten widmet sich CordArte gemeinsam mit dem Bassisten Peter Kooij, der sich wie nur wenige sonst in der barocken Gesangskunst zuhause fühlt.
Programmfolge
Triosonate a-Moll BuxWV 272
für Violine, Viola da gamba und Basso continuo
Franz Tunder (1614-1667)
Canzona für Tasteninstrument
»Salve coelestis pater«
Kantate für Bass, Violine und Basso continuo
Johann Krieger (1651-1735)
Fantasia C-Dur für Cembalo
Johann Philipp Krieger (1649-1725)
Sonata C-Dur op. 2,1
für Violine, Viola da gamba und Basso continuo
Heinrich Ignaz Franz Biber (1644-1704)
»Nisi Dominus aedificaverit domum«
Kantate für Bass, Violine und Basso continuo
Pause
Johann Pachelbel (1653-1706)
»Ach Herr, wie ist meiner Feinde so viel«
Kantate für Bass, Violine und Basso continuo
Anonymus (2. Hälfte 17. Jahrhundert)
Sonate d-Moll für Viola da gamba und Bass continuo
Johann Heinrich Schmelzer (1623-1680)
Triosonate a-Moll aus Duodena selectarum sonatorum
für Violine, Viola da gamba und Basso continuo
Nikolaus Bruhns (1665-1697)
»Mein Herz ist bereit«
Kantate für Bass, Violine und Basso continuo
Pdf-Download: Gesangstexte und Übrsetzungen
Kammermusikalische Erfolgsrezepte
In der kulturellen Aufbruchszeit nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges gelang es vielen Musikern , die im deutschsprachigen Raum, ihrer Musik eine neue, sinnliche Ausdrucksdichte zu verleihen, inspiriert nicht zuletzt durch italienische Kompositionsvorbilder. Damals war man noch nicht auf jene Geschlossenheit der Form fixiert, wie sie sich bald nach 1700 im Ritornell-Prinzip des instrumentalen Solokonzerts und in der regelmäßigen Reihung vokaler Satzpaare aus Rezitativ und Da-capo-Arie etablierte. Gleichwohl folgen die Vokalwerke für Bass, Violine und Basso continuo, die im heutigen Konzert erklingen, bestimmten formalen Normen, in denen sich auch eine Art aufführungspraktisches Optimum manifestiert: Zu den kirchenmusikalischen Kräften, die einem Organisten damals zur Verfügung standen, zählte in der Regel ein qualifizierter Geiger, und so mancher Sänger, der sich ehedem im Schülerchor als Knabensolist profiliert hatte, brachte nach dem Stimmbruch neben der jahrelangen Erfahrung im virtuosen Ziergesang auch eine profunde Bassstimme mit auf die Musizierempore.
Als Hanse- und Hafenstadt war Lübeck neben Hamburg das norddeutsche Einfallstor für den modernen italienischen Musizierstil. Dessen Heimstatt wurde die repräsentative Stadtkirche St. Marien, in der mit Franz Tunder seit 1641 ein Organist amtierte, der von der virtuosen Tastenkunst des Römers Girolamo Frescobaldis fasziniert war. Über die Verpflichtungen während der Gottesdienste hinaus unterhielt Tunder die Lübecker Geschäftsleute Donnerstag abends, wenn sie auf die Eröffnung der Börse warteten, mit seiner Musik. Bei solch einer Gelegenheit mag seine Canzona in G erklungen sein, ein fugiertes Stück, das sich durch den Wechsel vom geraden zum ungeraden Taktmaß deutlich in zwei Hälften gliedert, so wie es damals in der Tanzmusik gebräuchlich war. Auch geistliche Kompositionen für einige Vokalstimmen und Streicher bereicherten bald die Lübecker »Abendmusiken«. Primär dürfte ein Werk wie das Salve colestis pater aber im Gottesdienst seinen Platz gefunden haben. Es handelt sich um eine protestantische Adaption der marianischen Antiphon Salve regina, in der anstelle der Gottesmutter der himmlische Vater selbst angerufen wird. Die Violinstimme nimmt fast jeden Einsatz des Vokalbasses im Gestus und oft auch in der Tonfolge vorweg, von der devoten Eingangsfloskel über die chromatisch geschärften Abschnitte, in denen von den Seufzern im Tränental die Rede ist, bis zu den zuversichtlich ausgreifenden Schluss-Anrufungen.
Zum Amtsnachfolger Tunders wählte der Lübecker Magistrat im April 1668 Dieterich Buxtehude. Wie vielleicht kein Zweiter in Deutschland übernahm er die musikalische Experimentierfreude Italiens als Stylus phantasticus in seine Instrumentalmusik: einen wie improvisiert wirkenden Wechsel von rhapsodisch freien Monodien und Abschnitten kontrapunktischer Dichte. Im Duo a-Moll für Violine, Viola da gamba und Basso continuo dominiert allerdings das Ostinato-Prinzip, bei dem sich der Oberstimmensatz in Variationen über einer beständig wiederkehrenden Bassformel entwickelt. Eine ähnliche Ostinato-Form stellt die ausgedehnte Chaconne am Ende der anonymen Sonate d-Moll für Viola da gamba und Basso continuo dar, die ein Kopist um 1700 in ein heute in Oxford aufbewahrtes Manuskript eintrug, neben Gambensoli Buxtehudes und des ebenfalls in Lübeck tätigen Instrumentalisten David Arnold Baudringer. Das effektvolle Werk wartet in der Solostimme mit einer Fülle gambentypischer Doppelgriffe und Akkorde auf.
Nach Mitteldeutschland gelangte der italienische Stil über mehrere Musiker, die aus Nürnberg stammten. Dort kamen kurz nach der Jahrhundertmitte die Brüder Johann Philipp Krieger und Johann Krieger zur Welt. Dem zwei Jahre älteren Johann Philipp waren besonders erfahrungsreiche musikalische Lehrjahre vergönnt: Einer Ausbildung in Kopenhagen folgte ein zweijähriger Italien-Aufenthalt, den er vor allem in Venedig und Rom verbrachte. Wien, Frankfurt und Kassel waren weitere Stationen seiner noch jungen Karriere, bevor er 1677 in Halle Hofmusiker bei Herzog August von Sachsen und ab 1680 Kapellmeister bei dessen Nachfolger Johann Adolph I. in der neuen Residenz Weißenfels wurde. In den Triosonaten, die 1693 als sein Opus 2 in Nürnberg erschienen, verheißt schon der Titel - XII Sonate à doi, Violino e Viola da Gamba, di Giovanni Filippo Kriegher - eine gewisse Italianità. Die erste, noch in althergebrachter Weise vielgliedrige Sonate daraus verbindet den für das barocke Trio wegweisenden imitativ-kontrapunktischen Satz mit ausdrucksvollen Solo-Abschnitten für Violine oder Gambe. Inwieweit Johann Krieger seinen Bruder auf dessen Ausbildungsweg begleitete, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Jedenfalls wirkte er später vier Jahre lang als Kapellmeister an den kleinen thüringischen Residenzen Greiz und Eisenberg, bevor er 1682 als Stadtorganist nach Zittau kam. In seiner Fantasia C-Dur hat er den Stylus phantasticus ein wenig gezähmt, in einem Variationensatz mit Rondo-Charakter - was dem Stück aber nichts von seiner spritzigen Wirkung als Eröffnung der Sechs musicalischen Partien nimmt, die Krieger 1697 in seiner Geburtsstadt veröffentlichte (sein Vorwort ist bezeichnenderweise in Deutsch und Italienisch abgedruckt).
Ein Nürnberger Altersgenosse der beiden Krieger war Johann Pachelbel. Sein Ausbildungsweg führte ihn bis nach Wien, wo die Musik damals nicht nur durch viele venezianische Hofmusiker geprägt wurde, sondern auch durch den Stephansdom-Organisten Johann Caspar Kerll, der in Rom bei Giacomo Carissimi in die Lehre gegangen war. Bevor Pachelbel 1695 als Organist in seine Heimatstadt zurückfand, wirkte er für etwa 18 Jahre - von einem kaum zweijährigen Stuttgarter Intermezzo abgesehen - in Thüringen: als Hoforganist in Eisenach, als Stadtorganist in Erfurt und Gotha. Dank vieler Schüler und Enkelschüler verbreitete sich sein kontrapunktisch fundierter, aber gleichzeitig höchst melodiöser Stil in ganz Mitteldeutschland. Pachelbels Vertonung des Psalms 3, Ach Herr, wie ist meiner Feinde so viel, wurde erst vor einigen Jahrzehnten in einer thüringischen Dorfkirche zwischen Erfurt und Gotha entdeckt. Vom illustrativen Potenzial der Violine macht Pachelbel in der Mitte des Vokalkonzerts besonders intensiv Gebrauch: Langsame und gleichmäßige Doppelgriff-Gruppen begleiten die Liegetöne von Singstimme und Generalbass zu den Worten »Ich lieg und schlafe«, schnell aufsteigende Triolen-Ketten bilden dann in Vokalbass und Instrumentalsolo das »Erwachen« ab, zum lang ausgehaltenen Basston auf das Wort »erhält« erklingen in der Violine kurze repetierende Motive.
Die größten Violinmeister unter den deutschsprachigen Musikern des 17. Jahrhunderts stammten aus dem österreichischen Raum und wirkten von Beginn ihrer Laufbahn an im Umkreis italienischer Virtuosen. Die Rede ist zunächst von Johann Heinrich Schmelzer, einem Niederösterreicher, der schon früh nach Wien kam, im Herbst 1649 in die kaiserliche Hofkapelle aufgenommen wurde und 1679 als erster Nicht-Italiener zum Kapellmeister ernannt wurde. Die Sonate a-Moll für Violine, Viola da gamba und Basso continuo entstammt seinem ersten gedruckten Opus, Duodena selectarum sonatorum, das 1659 in Nürnberg erschien. Es liegt nahe, sich den Violinmeister und seinen ausgezeichnet Gambe spielenden Kaiser Leopold I. als erste Interpreten dieser Sonate vorzustellen - wobei der junge Monarch seinem Musiker dann in der Reihenfolge der Solopassagen einmal den Vortritt lassen musste.
Einiges deutet darauf hin, dass der zweite große Violinist der Epoche, Heinrich Ignaz Franz Biber, eine Zeitlang bei Schmelzer in die Lehre ging. Geboren wurde er in Böhmen, seit 1666 stand er dort in Diensten des Fürstbischofs Karl Liechtenstein-Kastelkorn in Olmütz. Später wechselte er nach Salzburg und wurde schließlich 1684 Hofkapellmeister des Fürsterzbischofs Max Gandolph von Khuenburg. Seine Vertonung des 126. Psalms Nisi Dominus aedificaverit domum als Solokonzert für Bass, Violine und Basso continuo ist bemerkenswerterweise nur in einer Abschrift aus der protestantischen Fürstenschule im sächsischen Grimma bekannt. Wahrscheinlich hatte deren Kantor das Stück um 1700 in den Notenbeständen der Dresdner Hofkapelle gefunden, die damals einem zum Katholizismus konvertierten Herrscher diente.
Von einem musikalischen Multitalent in Deutschlands Norden, dem jung verstorbenen Husumer Stadtorganisten Nicolaus Bruhns, wusste noch ein halbes Jahrhundert später der Hamburger Musikpublizist Johann Mattheson zu berichten: »Weil er sehr starck auf der Violine war, und solche mit doppelten Griffen, als wenn ihrer 3. oder 4. wären, zu spielen wusste, so hatte er die Gewohnheit, dann und wann auf seiner Orgel die Veränderung zu machen, dass er die Violine zugleich, mit einer sich dazu gut schickenden Pedalstimme gantz allein, auf das annehmlichste hören ließ«. Von dieser bassbegleiteten Violinkunst gibt die dreiteilige Sonatina, die Bruhns seinem Vokalkonzert Mein Herz ist bereit voranstellt, eine deutliche Vorstellung. Ebenso typisch für die polyphone Denkweise der norddeutschen Melodiker ist aber die Art, in der Bruhns die Violine in all ihrer Kunst weiterspielen lässt, wenn die Vokalstimme mit den lobpreisenden Worten aus dem Psalm 57 hinzutritt.
Mitwirkende
Ensemble CordArte
Heike Johanna Lindner - Viola da gamba
Markus Märkl - Cembalo, Orgel