Saison 2012/2013: Konzert 3

Sonntag, 25. November 2012 17 Uhr Trinitatiskirche

Metamorphosen

Johann Sebastian Bach in seinen eigenen Konzert-Bearbeitungen NeoBarock NeoBarock Sendung auf WDR 3 am 31. Januar 2013

Was heute noch in der Pop- und Jazz-Branche selbstverständlich ist, gehörte auch für einen Johann Sebastian Bach zum Alltag: Je nach den musikalischen Gegebenheiten arrangierte er seine Kompositionen, reduzierte oder erweiterte Besetzungen, passte Solostimmen an und tauschte Sätze aus. Solchen Werk-Metamorphosen ist das Kölner Ensemble NeoBarock auf der Spur: In furiosen, klanglich und technisch brillanten und gleichzeitig einfühlsamen Interpretationen setzt es in seinem Programm so manche Ur- und Frühfassung als ebenbürtiges Werk neben die Klassiker aus Bachs Konzert-Repertoire.

Programmfolge

Johann Sebastian Bach (1685 - 1750) Sonate d-Moll nach BWV 1043 für 2 Violinen und Basso continuo Rekonstruktion von Volker Möller Vivace - Largo - Allegro Konzert g-Moll BWV 1058 für Cembalo, Streicher und Basso continuo Bearbeitung von Johann Sebastian Bach nach BWV 1041 [Allegro] - Andante - Allegro assai Konzert d-Moll nach BWV 1052 für Violine, Streicher und Basso continuo Rekonstruktion von Volker Möller [Allegro] - Adagio - Allegro Pause Konzert Es-Dur nach BWV 1053 für Viola, Streicher und Basso continuo Rekonstruktion von Wilfried Fischer Allegro - Siciliano - Allegro Konzert D-Dur nach BWV 1064 für 3 Violinen und Basso continuo Rekonstruktion von Volker Möller Allegro - Adagio - Allegro

Einführung

Was in der Pop- und Jazz-Branche selbstverständlich ist, wird in der so genannten »Ernsten Musik« häufig als Sakrileg betrachtet: Ein den Gegebenheiten der jeweiligen Aufführung Rechnung tragendes »Arrangement« zerstöre den in einer »Fassung letzter Hand« fixierten Willen des Komponisten, lautet da die gängige Meinung. Aber gerade in der lebendigen Musikkultur des Barock, in der das, was wir heute als E-Musik bezeichnen, Unterhaltungs- und Gebrauchsmusik war, spielten Be- und Umarbeitungen eigener und fremder Werke eine tragende Rolle. Besonders das Œuvre Johann Sebastian Bachs birgt da so manche Überraschung!

Bachs Cembalokonzerte entstanden in seiner Leipziger Zeit zwischen 1729 und 1740. Als Leiter des seinerzeit von Georg Philipp Telemann gegründeten Collegium musicum - einem wöchentlich im Zimmermannischen Caffee-Hauß konzertierenden studentischen Ensemble auf professionellem Niveau - benötigte er viel und vor allem neue »Unterhaltungsmusik«. Da er aber als Thomaskantor und Musikdirektor zahlreiche andere Verpflichtungen hatte, lag es nahe, dass er aus Zeitmangel auf frühere Kompositionen, zum Beispiel aus seiner Zeit als Konzertmeister in Weimar und Kapellmeister in Köthen, zurückgriff.

In einigen Fällen haben sich beide Fassungen, sowohl das Cembalokonzert als auch die entsprechende früher komponierte Vorlage, erhalten und zeugen davon, dass Bach seine Werke mitnichten als unantastbare Ikonen betrachtete. Beispiele dafür sind zwei weltbekannte »Hits« der Barockmusik: Das Violinkonzert a-Moll (BWV 1041) und das Doppelkonzert d-Moll (BWV 1043) für zwei Violinen, die Bach zum Cembalokonzert g-Moll (BWV 1058) bzw. zum Konzert für zwei Cembali c-Moll (BWV 1062) umarbeitete. Für das heutige Programm haben wir die kaum bekannte Cembaloversion zum a-Moll-Violinkonzert ausgewählt. Als äußeres Merkmal der Bearbeitung fallen sofort die unterschiedlichen Tonarten ins Auge. In der Regel hat Bach die jeweilige Vorlage für die Cembalofassung um einen Ganzton tiefer transponiert; der gegenüber der Violine begrenzte Höhenumfang des Cembalos dürfte den Anstoß dazu gegeben haben.

Die Cembalofassung des Doppelkonzerts steht mit c-Moll ebenfalls einen Ton tiefer als die ältere Violinfassung. Aber auch diese stellt, obwohl sie bei der Bearbeitung für zwei Cembali als Vorlage diente, nicht die Urfassung dieser Komposition dar. Offensichtlich wird dies in den als Fugenexposition gestalteten Ritornellen des ersten Satzes, in denen jede Stimme Themeneinsätze beisteuert - bis auf die Bratsche. Dass Bach aber eine Ensemble-Fuge komponiert haben soll, ohne die Viola je am thematischen Geschehen zu beteiligen, ist undenkbar! Tatsächlich repräsentiert das Werk ohne die Ripieno-Stimmen einen in sich vollkommen geschlossenen Triosatz von erlesener Stimmführung. Dies lässt als einzigen Schluss zu, dass die Urfassung eine Triosonate »auf Concerten-Art« war, wie sie das heutige Programm eröffnet. Auch vor einem anderen Hintergrund erscheint eine solche Urfassung logisch: Dass Bach zur zentralen Kammermusikgattung des Barock, der Triosonate, nur so wenig, wie überliefert ist, beigetragen haben soll und insbesondere zu ihrer Standardbesetzung mit zwei Violinen gar nichts - das ist schwer vorstellbar.

Auch in jenen Fällen, in denen nur die Fassung als Cembalokonzert überliefert ist, lassen sich in den Partituren signifikante Zeichen einer Bearbeitung erkennen. Das Cembalokonzert d-Moll (BWV 1052) lässt beispielweise wegen der für das Tasteninstrument untypischen Spielfiguren Rückschlüsse auf eine frühere Violinfassung zu. Sehr deutlich wird hier mit der sogenannten Bariolage-Technik gespielt: Eine leere Saite fungiert dabei als Liegeton, während gegriffene Töne auf den benachbarten Saiten eine Melodie bilden. Obwohl alle Töne solcher Passagen nacheinander gespielt werden, nimmt der Hörer im Zusammenspiel mit der Raumakustik eine »vorgegaukelte« Mehrstimmigkeit wahr. Diesen für die Violintechnik sehr charakteristischen Effekt, der auf dem Cembalo nur unvollkommen realisierbar ist, wendete Bach jeweils in den Rahmensätzen des Violinkonzerts d-Moll an.

Wie dieses ist auch das Violakonzert Es-Dur nicht nur in einer Cembalofassung, sondern in Teilen auch in mehreren Kirchenkantaten Bachs überliefert - dort allerdings mit konzertierender Orgel. Dies ist ein weiteres Indiz für die Existenz jeweils gemeinsamer, heute verschollener Vorlagen, auf deren Grundlage sowohl die Kantatensätze als auch die Cembalokonzerte entstanden sind. Von größter Bedeutung sind hier die eingangs erwähnten Werke, von denen uns beide Fassungen aus der Hand Bachs vorliegen, denn aus seiner Bearbeitungstechnik lassen sich wertvolle Schlüsse für den umgekehrten Prozess der Wiederherstellung verloren gegangener Vorlagen ziehen. Dennoch bleiben Fragen, die sich nicht mehr in aller Klarheit beantworten lassen. Während zum Beispiel die ursprüngliche Besetzung des Soloparts im Fall des erwähnten d-Moll-Cembalokonzerts wegen der erwähnten Bariolage-Passagen eindeutig ist, wird beim Cembalokonzert E-Dur (BWV 1053) bis heute darüber spekuliert. Die Zusammenschau der Befunde in den erhaltenen Quellen macht die Viola als Soloinstrument und die Tonart Es-Dur wahrscheinlich, und das klangliche Ergebnis überzeugt. So ganz ungewöhnlich ist der solistische Einsatz der Bratsche bei Bach nicht - diverse Kantatensätze und das sechste Brandenburgische Konzert sind Beweis genug.

Innerhalb der Cembalokonzerte fällt bei Bach die Häufung der Werke für zwei bis vier Cembali auf, einer damals wie heute eher ungewöhnlichen Besetzung. Möglicherweise hat der Vater seinen Söhnen ein Podium schaffen wollen, auf dem sie ihr solistisches Können erproben und unter Beweis stellen konnten. Eines dieser Werke ist das Konzert für drei Cembali C-Dur (BWV 1064), das NeoBarock in einer eigenen Rekonstruktion der Urfassung für drei Violinen und Basso continuo präsentiert.

NeoBarock möchte diese »Arrangements« von ihrem Stigma befreien, unvollkommene Vorläufer einer »letztgültigen Fassung« zu sein. Es gibt ihnen so ihre dem vermeintlichen (weil überlieferten) »Original« ebenbürtige, mitunter sogar überlegene ursprüngliche Ausdruckskraft zurück.

NeoBarock

Mitwirkende

NeoBarock
Volker Möller - Violine
Maren Ries - Violine, Viola
Anne von Hoff - Violine, Viola
Katka Ozaki - Violine
Johannes Platz - Viola
Ariane Spiegel - Violoncello
Tobias Lampelzammer - Violone
Fritz Siebert - Cembalo