Saison 2012/2013: Konzert 7

Sonntag, 21. April 2013 17 Uhr Trinitatiskirche

Jauchzet dem Herrn

Deutsche Kantaten und Kammermusik des 17. Jahrhunderts Hana Blaziková CordArte Hana Blaziková Sendung auf WDR 3 am 24.4.2013

Anno 1706 begehrten die Arnstädter Kirchenherren Auskunft vom jungen Johann Sebastian Bach, »aus was Macht er ohnlängsten die fremde Jungfer auf das Chor bitten und musizieren lassen«. Wir wissen nicht, wer die betreffende junge Dame war, und auch nicht, was sie mit Bach auf der Kirchenempore musizierte. Gemeinsam mit der tschechischen Sopranistin Hana Blazíková hat das Ensemble CordArte aber ein Programm mit Werken aus dem deutschen Repertoire des 17. Jahrhunderts zusammengestellt, die sich durchaus in Bachs verschollenem »Apparat der auserlesensten Kirchenstücke« befunden haben könnten.

Programmfolge

Johann Schop (um 1590-1667) Jauchzet dem Herrn Geistliches Konzert für Sopran, Violine und Basso continuo aus "Geistliche Concerten", Hamburg 1644 Dietrich Buxtehude (1637-1707) Triosonate op. 1,4 und Suite B-Dur BuxWV 255/273 für Violine, Viola da gamba und Basso continuo Vivace – Lento – Allegro – Allamanda – Courant – Saraband – Gigue Johann Philipp Förtsch (1652-1732) Aus der Tiefe ruf ich, Herr, zu dir Geistliches Konzert für Sopran, Violine, Viola da gamba und Basso continuo Johann Pachelbel (ca. 1653-1706) Ciacona f-Moll für Orgel Mein Fleisch ist die rechte Speise Geistliches Konzert für Sopran, skordierte Violine und Basso continuo Pause Samuel Capricornus (1628-1665) Jesu nostra redemptio Geistliches Konzert für Sopran, Viola da gamba und Basso continuo aus "Scelta musicale", Bozen/Frankfurt 1668/69 Johann Philipp Krieger (1649-1725) Sonata VII B-dur für Violine, Viola da gamba und Basso continuo aus "XII Suonate à doi" op. 2, Nürnberg 1693 Dietrich Buxtehude Gen Himmel zu dem Vater mein BuxWV 32 Kantate für Sopran, Violine, Viola da gamba und Basso continuo

Virtuosität im Dienste des Ausdrucks

In der deutschsprachigen Musik nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges lässt sich eine neue Ausdrucksdichte feststellen, die von einer aus Italien importierten Sinnlichkeit profitierte. Ihr Markenzeichen hieß Stylus phantasticus und meinte den wie improvisiert wirkenden Wechsel von rhapsodisch freien Monodien und Abschnitten vielstimmiger kontrapunktischer Dichte. Die Komponisten waren damals noch nicht auf jene Geschlossenheit der Form fixiert, wie sie sich bald nach 1700 im Ritornell-Prinzip des instrumentalen Solokonzerts und in der regelmäßigen Reihung vokaler Satzpaare aus Rezitativ und Da-capo-Arie etablierte. Gleichwohl folgen die Vokalwerke, die im Zentrum des heutigen Programms stehen, nicht nur im Sinne des Stylus phantasticus bestimmten kompositorischen Normen. Ebenso manifestiert sich in ihnen eine Art aufführungspraktischer Standard: Zu den Kräften, die einem mit der Kirchenmusik betrauten Organisten damals zur Verfügung standen, zählten zumindest in den künstlerisch ambitionierteren Städten Mittel- und Norddeutschlands qualifizierte Ratsmusiker, die in der Regel auf mehreren Instrumenten bewandert waren. Darüber hinaus gelang es so manchem jüngeren Musiktalent, sich aus dem Schülerchor heraus als Solosänger für die neue, affektbetont konzertierende Musik zu empfehlen, in der Solostimme und Instrumente zusammenfanden.

Prinzipiell tabu war damals noch der Einsatz von Frauenstimmen in der Kirchenmusik; Ausnahmen erlaubte sich der eine oder andere Fürst für die Aufführungen in seiner Schlosskapelle, und manchmal setzte sich zumindest außerhalb der Gottesdienste auch der eine oder andere Kirchenmusiker darüber hinweg. So wurde im Jahr 1706 aktenkundig, dass die Vorgesetzten des 21-jährigen Arnstädter Organisten Johann Sebastian Bach zu wissen begehrten, »aus was Macht er ohnlängsten die fremde Jungfer auf das Chor bitten und musizieren lassen«. Es mag sich bei der betreffenden Dame um seine Kusine Maria Barbara Bach gehandelt haben, die er einige Monate später heiratete.

Aktenkundig wurde 1706 auch, dass der junge Arnstädter Organist seinen Urlaub um ein Vielfaches überzog und sich drei bis vier Monate lang in Deutschlands Norden aufhielt, um sich dort musikalisch weiterzubilden. In den großen Ratskirchen wie in privaten bürgerlichen Zirkeln der Hanse- und Hafenstädte pulsierte seinerzeit das musikalische Leben. Verwurzelt in einer jahrzehntelangen Kontrapunkt- und Choral-Tradition, war man dort doch immer offen für Neues – nicht zufällig öffnete 1678 in Hamburg das erste bürgerliche Opernhaus Deutschlands.

Mit Johann Schop hatte man in der Hansestadt schon 1621 einen international erfahrenen, am dänischen Hof vom Engländer William Brade ausgebildeten Geiger zum Anführer der acht Ratsmusiker ernannt; zwischen 1630 und 1642 übernahm Schop zusätzlich das Kantorenamt am Dom. Was er damals an Kirchenmusik komponierte, ließ er 1644 unter dem Titel Geistliche Concerten drucken. Hier findet sich auch die kongenial aus dem hymnischen Text heraus empfundene Vertonung Jauchzet dem Herrn, die mit den Worten des 100. Psalms in der Übersetzung Martin Luthers zum Gotteslob auffordert.

Zwei Generationen jünger als Schop war Johann Philipp Förtsch, der aus dem fränkischen Wertheim stammte und 1674 in Hamburg eintraf, um sich als Sänger zu verdingen. Er profitierte entsprechend von der Eröffnung der Oper, für die er auch als Komponist und Übersetzer tätig war – selbst nachdem er 1680 zum Leiter der Gottorfer Hofkapelle ernannt worden war und ab 1684 als Arzt in Husum praktizierte. In Gottorf dürfte Förtsch das Gros seiner geistlichen Konzerte komponiert haben, in denen der melodiöse und bei Gelegenheit mit virtuosen Koloraturen auftrumpfende Opernstil seine Spuren hinterlassen hat – die Vertonung des 130. Psalms Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir ist dafür ein sprechendes Beispiel.

Bachs eigentliches Ziel hieß 1705 Lübeck und noch konkreter: Dietrich Buxtehude. Der war 1668 Nachfolger seines Schwiegervaters Franz Tunder als Organist an der Ratskirche St. Marien geworden. Tunder hatte dort eine der frühesten Formen öffentlicher Konzertveranstaltungen etabliert, indem er die Lübecker Geschäftsleute Donnerstag abends, wenn sie auf die Eröffnung der Börse warteten, mit Musik unterhielt – an Orgel und Cembalo, bald aber auch unter Beteiligung von weiteren Instrumenten und Vokalstimmen. Buxtehude gestaltete solche »Abendmusiken« noch aufwändiger, und sie dürften neben der Orgelkunst ein Hauptbeweggrund für Bach gewesen sein, sich so lange in Lübeck aufzuhalten. Dabei hörte er vermutlich auch Buxtehudes Kammerkompositionen »à 2. & 3. Violini & Viola da gamba, cum continuo, zur Kirchen- u. Tafel-Music bequemlich« (so charakterisiert sie ein Messkatalog des Jahres 1684). Im heutigen Konzert erklingt aus diesem Repertoire eine Sonate B-Dur mit Suite, die zum einen auf einer Druckausgabe von 1694 basiert und zum anderen auf handschriftlicher Überlieferung. Wie nahe auch die vokale Solomusik Buxtehudes dem Stylus phantasticus steht, verdeutlicht das geistliche Konzert Gen Himmel zu dem Vater mein, in dem die beiden Schlusszeilen des Luther-Chorals »Nun freut euch, liebe Christen g'mein« zur Musik für Christi Himmelfahrt umgedeutet sind. Choralthematik und freie Deklamation der Singstimme spiegeln sich im Instrumentalsatz und durchdringen sich hier gegenseitig.

Die andere große Organisten-Persönlichkeit, die für Bach wegweisend wurde, kam aus einem südlicheren Kulturkreis, wirkte aber etwa 18 Jahre lang als Hof- oder Stadtorganist in Eisenach, Erfurt und Gotha: Johann Pachelbel. Der Ausbildungsweg hatte den gebürtigen Nürnberger bis nach Wien zum kaiserlichen Organisten Johann Caspar Kerll geführt; in Erfurt wurde er später der Lehrer von Bachs älterem Bruder Johann Christoph. Pachelbels Ciacona f-Moll spielt mit einem beständig wiederkehrenden lapidaren Bassmotiv, über dem sich immer wieder neue Melodiemotive entwickeln. Sein geistliches Konzert Mein Fleisch ist die rechte Speise wurde vor einigen Jahrzehnten in einer thüringischen Dorfkirche wiederentdeckt. Vielleicht hat Pachelbel das Werk mit dem skordierten, also von der üblichen Grundstimmung abweichenden Violinsolo für den Eisenacher Kammermusikus Johann Ambrosius Bach – den Vater Johann Sebastians – komponiert, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband. Dem Verwendungszweck des Stücks als Musik zum Abendmahl entspricht der kontemplative musikalische Duktus.

Eine ältere Generation im deutschsprachigen Süden wirkender Komponisten repräsentiert der in Böhmen geborene Samuel Capricornus, der nach Ausbildungsstationen im westlichen Ungarn, in Schlesien, Straßburg, Reutlingen und Wien 1651 mit 23 Jahren zum Kantor und Musikdirektor an der Dreifaltigkeitskirche in Pressburg ernannt wurde. Sechs Jahre später wechselte er als Kapellmeister an den Stuttgarter Hof, wo ihm aber nur noch achteinhalb Lebensjahre vergönnt waren. So ist ein bedeutender Teil seines überwiegend geistlichen Vokalschaffens auch erst posthum veröffentlicht worden. 1668/69 erschien in Bozen und Frankfurt seine Scelta musicale, eine Auswahl von Werken für eine Singstimme und Begleitung, die deutlich jesuitisch geprägt sind. Möglicherweise hat sich der Protestant Capricornus hier von dem italienischen Repertoire inspirieren lassen, das er in Wien kennenlernte und in Pressburg nachweislich aufführte – darunter Claudio Monteverdi und Giacomo Carissimi. Ein Charakteristikum der Scelta musicale ist daneben die Virtuosität der begleitenden Instrumente – in Jesu nostra redemptio ist es eine Gambe, die mit der Sopranstimme in expressive Dialoge tritt.

Ein Nürnberger Altersgenosse Pachelbels mit prominenter Nord-Süd-Erfahrung war Johann Philipp Krieger. Seiner Ausbildung in Kopenhagen folgte ein zweijähriger Italien-Aufenthalt, den er vor allem in Venedig und Rom verbrachte. Wien, Frankfurt und Kassel waren weitere Stationen seiner noch jungen Karriere, bevor er 1677 in Halle Hofmusiker bei Herzog August von Sachsen und ab 1680 Kapellmeister bei dessen Sohn Johann Adolph I. in der neuen Residenz Weißenfels wurde – wo ihn Anfang des 18. Jahrhunderts auch Bach kennenlernte. In den XII Sonate à doi, Violino e Viola da Gamba, di Giovanni Filippo Kriegher, die 1693 als sein Opus 2 in Nürnberg erschienen, verheißt schon der Titel eine gewisse Italianità. Die siebte, noch in althergebrachter Weise vielgliedrige Sonate daraus verbindet den für das barocke Trio wegweisenden imitativ-kontrapunktischen Satz mit ausdrucksvollen Solo-Passagen für Violine und Gambe.

behe

Mitwirkende

CordArte

Hana Blaziková – Sopran CordArte: Daniel Deuter Heike Johanna Lindner Markus Märkl