Saison 2013/2014: Konzert 6
Karneval der Medici
Messteile, Huldigungsmotetten und Canti carnascialeschi von Guillaume Dufay, Heinrich Isaac, Adrian Willaert, Alexander Agricola, Francesco Corteccia u.a. Cinquecento Sendung auf WDR 3 am 27. Februar 2014Wer im Florenz der Renaissance gerade noch der strengen katholischen Liturgie beigewohnt hatte, tummelte sich kurz darauf schon in den schmutzigen Straßen der Stadt zu den derben Klängen der »Canti carnascialeschi«. Auch die Komponisten waren in den Kirchen und Gassen dieselben – sie vertonten sowohl die heiligen lateinischen Texte als auch profane Lieder voll anzüglicher Anspielungen im florentinischen Dialekt. Ein karnevaleskes Zeitbild der Renaissance zeichnet das Vokalensemble Cinquecento in der Gegenüberstellung von geistlichen und weltlichen Werken, die frankoflämische und italienische Komponisten für die Medici schrieben.
Programmfolge
Die Medici in Florenz
Weltliche Macht und kirchliche Gewalt, beide Pole der höchsten gesellschaftlichen Hierarchieebenen, hatte die Familie Medici zu ihrer Glanzzeit unter Kontrolle in einer Welt, in der kirchliche Würdenträger grundsätzlich weltliche Herrscher waren und umgekehrt der Glaube radikal in alle Lebensbereiche hineinwirkte. Durch bürgerliche Tüchtigkeit reich geworden und zunächst Interessensvertreter der Bürger und kleinen Leute, entwickelten sich die Medici zu Despoten der neuen Art: skrupellos in ihrem Herrschaftsanspruch und kühl kalkulierend in der Entwicklung des Bankwesens. Mit geschickter Heiratspolitik verbanden sie sich mit den Königsfamilien Europas und eroberten schließlich sogar den Papstthron. Was sie an Familientradition vermissen ließen, verschafften sie sich durch eine Imagekampagne, in der die Künste eine entscheidende Rolle spielten. Ihren schier unermesslichen Reichtum nutzten sie dazu, ihrer Heimatstadt architektonisch (bis heute!) einen beeindruckenden Stempel aufzudrücken: Filippo Brunelleschi steht als Erster in einer Reihe von herausragenden Architekten, die Florenz in eine Renaissancemetropole verwandeln; Sandro Botticelli und Michelangelo definieren den Kanon der Kunst aus den Vorbildern der Antike neu; Genies wie Leonardo da Vinci arbeiten im Auftrag der Medici an einer technisierten Zukunft. Und Komponisten liefern dazu den Soundtrack.
Musiker aus Flandern und Nordfrankreich dominierten zunächst die Musik in Florenz und weit darüber hinaus. Entsprechend sind sie auch im Programm präsent – mit Guillaume Dufay, Alexander Agricola, Jean Ghiselin, Matthaeus Pipelare, vor allem aber Heinrich Isaac und Adrian Willaert. Heinrich Isaac war der Favorit von Lorenzo de’ Medici. Dieser machtbewusste Mann band den weltbekannten Komponisten über die Ehe mit einer Metzgerstochter an Florenz. So feiert Isaac im Canto delle dèe die Stadt am Arno als Sehnsuchtsort, an dem Liebe und Künste gedeihen – natürlich unter dem Patronat der Medici. Reine Propagandakunst – aber von erlesener Qualität und sehr wirkungsmächtig. Un dì lieto ist eine weitere Vision vom prosperierenden Florenz. Zeitgenossen beschreiben respektvoll und doch auch ironisch, dass Isaac offensichtlich bereit und fähig war, alles zu komponieren, was sein Dienstherr verlange. Mit A la battaglia schrieb er 1485 ein martialisches Stück zur Erhebung Niccolò Orsinis in den Generalsrang, bevor dieser aufbrach, um Genua zu besiegen.
Giovanni da Nola gehört zur jungen Generation italienischer Komponisten, die unter der Vorherrschaft der franko-flämischen Schule aufwachsen, aber eigene Akzente setzen; seine Karnevalslieder sind derb und karikierend. Lorenzo de’ Medici tat sich übrigens selbst als Poet in der Dichtung solcher Lieder hervor, die entweder subtil die magische Kraft der Natur besingen oder in obszöner Weise alle möglichen Sexualpraktiken umschreiben. Da Nola publizierte in Venedig, der führenden Verlagsstadt Italiens im 16. Jahrhundert, und auch Adrian Willaert veröffentlichte dort seine Canzone villanesche alla napolitana. Diese Lieder sind für Feste geschrieben, in denen die Sänger verkleidet agierten - so in Cingari simo als Zigeuner, die sehr zweideutige Spiele im Repertoire zu haben scheinen. Dergleichen Belustigungen weit unter der Gürtellinie waren eben auch bei seriösen Meistern nicht verpönt.
Die Medici lebten in einer gewalttätigen Zeit, in der Mord zur Durchsetzung eigener Interessen an der Tagesordnung war und das Menschenleben auch von allerlei anderen Unbilden stetig bedroht. Kein Wunder, dass ein anonymes Karnevalslied in Carro della morte einen makabren Triumphzug des Todes zeichnet.
Der Florentiner Francesco Corteccia entstammt wie da Nola der jüngeren Komponistengeneration und war Hoforganist von Cosimo de’ Medici. Seine große Hymne Lucis creator optime auf das Fest von St. Peter und Paul publizierte er 1543. Wie stilbildend die alten Meister da immer noch waren, lässt sich an Corteccias Werk deutlich hören. Unübertrefflich schließlich muss die Meisterschaft gewirkt haben, in der Heinrich Isaac 1492 den Tod seines Herrn Lorenzo de’ Medici betrauerte: Quis dabit capiti meo acquam. Die Verse von Angelo Poliziano sind so schlicht wie erschütternd, Isaacs Gesangslinien tieftraurig, die Welt scheint kalt und leer. Das ist mehr als bloße Trauerroutine: Lorenzo war ganz sicher eine ebenso auratische wie furchteinflößende Persönlichkeit.
Von den berühmten Frankoflamen hatte Guillaume Dufay persönlich wahrscheinlich nur in einem Briefwechsel Kontakt zu den Medici – in dem er u.a. aber die Messe über Se la face ay pale erwähnt. 1436 komponierte er die große Einweihungsmotette Nuper rosarum flores, die in ihrer Struktur die exakten Proportionen des Florentiner Doms von Brunelleschi übernimmt.
Die Kompositionen von Alexander Agricola über das populäre Lied Fortuna desperata und von Jean Ghiselin über die Marienhymne O gloriosa Domina setzen auf je eigene Art die Verehrung einer hohen Dame in Töne. Der gleichen Sammlung von Canti carnascialeschi wie Giovanni da Nolas Stücke entstammt Dal lecto me levava, das der Veroneser Lautenist Michele Pesenti komponiert hat. Einige der vulgären Wortwitze im Florentiner Dialekt sind heute kaum noch verständlich. Eindeutig ist hingegen der Doppelsinn des ersten Wortes in Medici nui siamo: der Name des Florentiner Herrschergeschlechts bedeutet nämlich wörtlich „Ärzte“ oder „Heiler“.
Die Messe über Fors seulement aus der Feder des Flamen Matthaeus Pipelare erschien 1516 im Druck und findet sich auch in zwei Quellen aus der Zeit der Medici-Päpste. Costanzo Festa, der vor allem in Rom wirkte, ist mit seiner Motette Florentia, tempus est poenitentiae im so genannten Medici-Codex von 1518 vertreten. Die Textpassage »Clamans Clemens peccavi« könnte eine direkte Anrufung von Papst Clemens VII. sein, der mit bürgerlichem Namen Giulio de’ Medici hieß.
Mitwirkende
Achim Schulz - Tenor
Tim Scott Whiteley - Bariton
Ulfried Staber - Bass