Saison 2015/2016: Konzert 1
Virtuoses aus dem barocken Kaffeehaus
Kantaten und Instrumentalmusik von Georg Friedrich Händel, Johann Christoph Friedrich Bach und Georg Philipp Telemann Veronika Winter | Das Kleine Konzert Ltg. Hermann Max Sendung auf WDR 3 am 27. Oktober 2015 ab 20:05 UhrEine der ersten musikalischen Adressen Leipzigs war in den 1730er Jahren das Café Zimmermann, in dem das studentische Collegium musicum unter Johann Sebastian Bach wöchentlich Hochvirtuoses servierte. Möglicherweise war hier sogar Dresdens Diva Faustina Bordoni-Hasse mit Händels »Armida abbandonata« zu Gast; in der »Ino« des Bach-Sohnes Johann Christoph Friedrich scheint das noch vier Jahrzehnte später nachzuklingen. Hermann Max und sein Ensemble Das Kleine Konzert steuern zu Veronika Winters exquisiter Kantaten-Auswahl noch brillante Instrumentalwerke des Leipziger Collegiums-Gründers Telemann bei.
Programmfolge
für Streicher und Basso continuo
Ouverture – Courante – Gavotte – Loure – Rondeau – Menuett / Trio 1-3 – Gigue
für Sopran, 2 Violinen und Basso continuo
für Streicher und Basso continuo
Largo – Allegro – Andante – Presto
Johann Christoph Friedrich Bach (1732-1795)
für Streicher und Basso continuo
Allegro – Andante amoroso – Allegro assai
Dramatische Kantate »Ino«, BR G 48
für Sopran, Streicher und Basso continuo
Vom Leipziger Barock zur Bückeburger Vorklassik
»Das neueste ist, daß der liebe Gott auch nunmehro vor den ehrlichen H. Schotten gesorget u. Ihme das Gothaische Cantorat bescheret hat; derowegen Er kommende Woche valediciren, da ich sein Collegium zu übernehmen willens.« – Man kann eine gewisse Vorfreude des Leipziger Thomaskantors Johann Sebastian Bach aus diesen Briefzeilen herauslesen, die er am 20. März 1729 an seinen ehemaligen Schüler Christoph Gottlob Wecker ins schlesische Schweidnitz absandte: Mit dem Wechsel des Leipziger Kirchenmusikkollegen Georg Balthasar Schott nach Gotha fiel Bach die Leitung von dessen Collegium musicum zu. Das war eine überwiegend studentische, in ihren musikalischen Ansprüchen und Fähigkeiten höchst professionelle Musikertruppe, die zu Beginn des Jahrhunderts Georg Philipp Telemann als Ensemble für die Leipziger Neukirche und für die während der Messezeiten veranstalteten Opernaufführungen gegründet hatte. Telemann war 1705 von Leipzig fortgegangen und wirkte inzwischen in Hamburg als Kantor am Johanneum und städtischer Musikdirektor. Er war der beliebteste und berühmteste deutsche Komponist und konnte seine Notendrucke sogar im Ausland mit Gewinn absetzen. In Leipzig gab es die Oper seit 1720 nicht mehr; das »Telemannische« Collegium musicum blieb aber trotz einiger Konkurrenz-Gründungen gleicher Art noch für Jahrzehnte ein wesentlicher Faktor des Konzertwesens in der Universitäts- und Handelsstadt. Bei seinen allwöchentlichen Auftritten freitags abends – während der Messezeiten außerdem dienstags – im »Zimmermannischen Kaffeehaus« und an schönen Sommertagen in dessen Biergarten präsentierten die Ensemblemitglieder das neueste Repertoire, das man in Drucken oder Abschriften auftun konnte. Dies ebenso im Zusammenspiel mit einheimischen Solisten wie mit musikalischen Gästen, die gerade im »Pleiß-Athen« Station machten. Darüber hinaus waren hier unter Bachs Leitung regelmäßig vokal-instrumentale Gratulationsmusiken zu hören, wenn es im kursächsischen Herrscherhaus in Dresden etwas zu feiern gab – eine Reverenz der Leipziger Untertanen, die der Ernennung des Thomaskantors zum externen Hof-Compositeur 1736 sicher förderlich war.
Das heutige Programm stellt in seinem ersten Teil drei Werke vor, die in dem seit 1729 »Bachischen« Collegium musicum erklungen sein dürften: Die beiden Instrumentalwerke Telemanns repräsentieren die beiden gängigsten instrumentalen Ensemblegattungen der Zeit – die vielgliedrige Ouvertürensuite c-Moll im mitunter etwas pompösen, jedenfalls eleganten französischen Goût und das Concerto d-Moll im virtuosen italienischen Gusto, der das Publikum im satzweisen Wechsel der Stimmungen und Affekte mitnahm. All dies selbstverständlich in der für Telemann typischen, harmonisch griffigen Melange eines Vermischten Geschmacks, wie er dem deutschen Publikum am meisten behagte.
Die beiden Werke umrahmen eine der Perlen aus den italienischen Jahren von Telemanns Jugendfreund Georg Friedrich Händel: die Kantate »Armida abbandonata«, eine hinreißend für Sopran und Instrumente in Musik gesetzte Klage der verlassenen Zauberin aus Torquato Tassos populärem Kreuzzugs-Epos La Gerusalemme liberata. Händel hatte das Werk 1707 für Margherita Durastanti geschrieben, die Primadonna seines adeligen römischen Gönners Francesco Maria Ruspoli. Bach fertigte 1731 Aufführungsmaterialien des Stücks an – mit ziemlicher Sicherheit, um es im Kaffeehaus vorzustellen. Wer aber war seine »Primadonna«? Hermann Max hat da die Gegenbesuche eines berühmten Künstler-Ehepaares vor Augen, das Bach Ende der 1720er-Jahre in Dresden kennengelernt hatte: den Hofkapellmeister Johann Adolf Hasse und seine italienische Gattin, die Star-Sängerin Faustina Bordoni, die zuvor in London unter Händel aufgetreten war. Dessen hochemotionales Werk in der Kehle der Faustina unter der Leitung Bachs und seiner famosen Instrumentalisten – eine musikalische Sternstunde!
Johann Christoph Friedrich Bach, 1732 geboren als Kind Johann Sebastians und seiner zweiten Frau Anna Magdalena (auch sie eine ausgebildete Sängerin), hatte kaum Gelegenheit, den Vater intensiv im Collegium musicum zu erleben, denn der gab die Leitung in der ersten Hälfte der 1740er Jahre auf. Dem laut seinem ältesten Bruder Wilhelm Friedemann »stärksten Spieler« unter den Geschwistern blieb es daher wohl versagt, sich selbst als Cembalosolist im Leipziger Kaffeehaus zu präsentieren. Karriere machte Johann Christoph Friedrich Bach in der Provinz – auf entsprechende Nachfrage des jungen Grafen Wilhelm von Schaumburg-Lippe beim Thomaskantor, der seinen Siebzehnjährigen 1749 postwendend auf den Weg nach Bückeburg schickte: »Übersende hiermit meinen Sohn, und wünsche, daß er im Stande seyn möge, Ew. Hoch-Reichs-Gräflichen Gnaden vollkommene Satisfaction zu verschaffen.« Der Wunsch ging in Erfüllung: auf Lebenszeit blieb Johann Christoph Friedrich Bach im Lippischen, zunächst als Hofcembalist, später als Konzertmeister. Und wie der Vater 1721 in Köthen, verheiratete sich der Sohn 1755 in Bückeburg mit einer Hofsängerin, der Mezzosopranistin Lucia Elisabeth Münchhausen.
Von Johann Christoph Friedrich Bachs frühen Qualitäten als Komponist gibt seine Sinfonia d-Moll einen treffenden Eindruck, die in ihrer Dreisätzigkeit mit dem Kontrastreichtum des Sturm und Drangs aufwartet: dem gestenreich-unruhigen Anfang folgen melancholisch-empfindsamere Töne; der Schluss im Bourée-Charakter scheint an barocke Suiten- und Concerto-Traditionen anzuknüpfen. Im heutigen Programm fungiert das Werk im ursprünglichen Sinne einer »Sinfonia« als Vorspiel zu einem Vokalwerk, der dramatischen Kantate »Ino« aus den 1770er Jahren. Ihre Dichtung stammt aus der Feder des Berliner Poeten Karl Wilhelm Ramler und führt dem Zuhörer die bedrängte Königstochter vor Augen, wie sie von ihrem wahnsinnig gewordenen Gatten Athamas verfolgt wird und sich aus Verzweiflung mit ihrem Sohn ins Meer stürzt, aber schließlich von den Meeresgöttern gerettet wird. Ramlers hoher Sprachton erhält in der Musik Bachs, die warmes Melos mit dramatischen Orchesterakzenten verbindet, eine eindringliche Leuchtkraft – das wirkt sicherlich weniger virtuos als eine der berühmten Faustina würdige Händel-Kantate, verfügt aber über große Intensität und melodischen Charme. Johann Christoph Friedrich Bach war eben nicht nur der Sohn Johann Sebastian Bachs, sondern auch ein Jahrgangsgenosse Joseph Haydns.