Saison 2015/2016: Konzert 2
Froberger auf Reisen
Musik von Johann Jacob Froberger, Girolamo Frescobaldi, Louis Couperin, Jacques Champion de Chambonnières, Matthias Weckmann und Johann Caspar Kerll Michael Borgstede – Cembalo Sendung auf WDR 3 am 19. Oktober 2015 ab 20:05 UhrJohann Jacob Froberger ist viel herumgekommen. Bei Frescobaldi in Rom hat er studiert, in Paris traf er Louis Couperin und Jacques Chambion de Chambonnières, in Dresden lieferte er sich einen freundschaftlichen Tastenwettstreit mit Matthias Weckmann; die Nachwelt beglückte er u.a. mit musikalischen Darstellungen einer wilden Überfahrt nach England. Michael Borgstede, der neue Kölner Hochschulprofessor für Cembalo und Generalbass, bringt in seinem Debüt beim Forum Alte Musik den Kollegen aus dem 17. Jahrhundert und dessen musikalische Reisebekanntschaften noch einmal zusammen.
Programmfolge
aus dem Libro IV (Wien 1656)
aus den Canzoni alla Francese (Venedig 1645)
aus dem Libro II (Wien 1649)
aus den Toccate e partite d’intavolatura di cimbalo I (Rom 1615)
aus dem Libro II
aus dem teilautographen Manuskript KN 147 in der Ratsbücherei Lüneburg
aus dem Manuscrit Bauyn (Paris um 1690)
Prélude a l’imitation de Mr. Froberger – Allemande l’Amiable – Courante La Mignone - Sarabande - La Piémontoise
Jacques Champion de Chambonnières (1602-1672)
aus Les Pièces de Clavessin II (1670) und unveröffentlichten Sätzen
Allemande – Courante – Courante – Sarabande – Brusque
aus dem Libro II
Allemanda – Courant – Sarabanda – Gigue
aus dem Hintze-Manuskript (Dresden um 1653)
aus dem Hintze-Manuskript
Berührend und zutiefst menschlich
Man muss sich Johann Jacob Froberger als einen ebenso lernbegierigen wie reisefreudigen Mann vorstellen. Kaum hat der junge Musiker seine Stelle als Organist am kaiserlichen Hof in Wien angetreten, da ist er auch schon wieder weg. Sein erstes Gesuch wird bei Hofe zwar abgelehnt, doch dann zahlt sich für den 21-Jährigen seine Beharrlichkeit aus: im September 1637 gewährt Kaiser Ferdinand III. ihm ein Stipendium von 200 Gulden, um bei dem berühmtem Petersdom-Organisten Frescobaldi in Rom in die Lehre zu gehen.
Bisher kennt Froberger die Werke der berühmten Tondichter seiner Zeit nur vom Papier: Das erhaltene Verzeichnis der Notenbibliothek seines Vaters Basilius Froberger, des Kapellmeisters der württembergischen Hofkapelle, liest sich wie ein Who's Who der zeitgenössischen Musikszene. Im Hause Froberger muss viel Musik erklungen sein. Vier seiner Brüder werden ebenfalls Musiker. Doch während Basilius Froberger sich wohl um die musikalische Ausbildung seiner Söhne kümmert, wütet in Europa ein Krieg, der dreißig Jahre währen und den Kontinent verwüsten wird. Auch Württemberg bleibt nicht verschont. 1634 wird die Hofkapelle in Stuttgart aufgelöst, drei Jahre später fallen Basilius, seine Frau eine Tochter der Pest zum Opfer. Da könnte der junge Johann Jacob seiner zerstörten Heimat schon den Rücken gekehrt und sich auf den Weg nach Wien gemacht haben. Von Januar bis Oktober 1637 erscheint er dort als Organist auf der kaiserlichen Gehaltsliste. Und nun also Italien.
Girolamo Frescobaldi ist damals schon ein älterer Herr und eine Berühmtheit. Seine Virtuosität, seine ungestüme Expressivität, aber eben auch seine kontrapunktische Disziplin haben Frescobaldis Ruhm über die Grenzen Italiens hinausgetragen und auch den jungen Froberger angezogen. Frescobaldi beherrscht die strikte Schönheit des gelehrten Ricercar ebenso wie den verspielten, aber nicht weniger kunstvollen Kontrapunkt der Canzone und Capricci. Auch Froberger bleibt der Polyphonie des stile antico sein Leben lang treu. Das simple Thema des Ricercar (II) in g wird nach allen Regeln des klassischen Kontrapunkts umspielt und taucht schließlich in doppelt so großen Notenwerten auf. Und doch ist die strenge Form bei Froberger keine theoretische Übung, nie kommt archaische Muffigkeit auf. Die wundersame Stimmigkeit der komplexen polyphonen Struktur strahlt vielmehr eine fast magische Ruhe aus.
Deutlich angeregter geht es in den Variations-Canzonen zu. Sowohl bei Frescobaldi wie auch bei Froberger wird hier abschnittsweise ein Thema rhythmisch und mit verschiedenen Gegenmotiven variiert. Auf die ausgedehnten freien, improvisatorischen Abschnitte, die sich in seinen früheren Werken des Genres finden, verzichtet Frescobaldi in der wohl recht spät entstandenen Canzon terza in g und alterniert zwei Abschnitte im Zweier-Metrum mit springenden Dreier-Takten. Sein Schüler hingegen lässt den letzten Abschnitt seiner Canzon (V) in C von einer Mini-Toccata mit überraschenden harmonischen Wendungen und ohne thematischen Bezug einleiten.
Es war Frescobaldi, der die Toccaten-Form zu einem ersten Höhepunkt brachte und mit dem so genannten »Fantastischen Stil« eine Mode schuf, die bald ihren Siegeszug durch Europa antrat. Frescobaldi selbst gibt dem Spieler Anweisungen zur Interpretation dieses neuen Stils: »Der Ausführende möge seine Spielart, wie es auch bei den modernen Madrigalen üblich ist, nicht streng dem Takt unterwerfen …« Seine Toccaten sind Erzählungen ohne Text: Eine Achterbahnfahrt der Gefühle von mitreißender Unmittelbarkeit, bei der der Zuhörer immer wieder von unvorhersehbaren Wendungen überrascht wird. Jeder Abschnitt hat dabei seine eigenen Motive, von denen niemals eines sich anmaßen würde, das ganze Stück zu beherrschen. Froberger lehnt sich in den freien Einleitungen seiner Toccaten deutlich an Frescobaldi an, geht aber eigene Wege: Seine Toccaten sind wie die Toccata (II) in d weniger rhapsodisch und die Fugen strenger gearbeitet.
Nach drei Jahren am Tiber kehrt Froberger 1641 nach Wien zurück und ist mindestens vier Jahre als Organist tätig. Doch das Reisefieber scheint ihn bald wieder zu ergreifen. Es folgt eine zweite Italienreise; 1649 machte er kurz Station in Wien, um dann nach Dresden weiterzureisen, wo er im Rahmen eines Clavierwettstreits auf den dortigen Hoforganisten Matthias Weckmann trifft. Der Konkurrenzkampf mündet in eine langjährige Freundschaft. Froberger und Weckmann hätten »immer einen vertraulichen Briefwechsel geführet«, heißt es noch 1740 bei Johann Mattheson. Froberger habe »dem Weckmann eine Suite von seiner eignen Hand, wobey er alle Manieren setzte, so daß Weckmann auch dadurch der frobergerischen Spiel-Art ziemlich kundig ward«, zukommen lassen. Siegbert Rampe vermutet heute, dass es sich dabei um die zwei Froberger'schen Sätze handelt (darunter auch die anrührende Méditation sur ma mort future), die sich von Weckmanns eigener Hand im so genannten Hintze-Manuskript finden.
Diese Handschrift enthält auch Stücke des Franzosen Jacques Champion de Chambonnières, von Johann Caspar Kerll und die drei einzigen erhalten Clavierstücke des Froberger-Schülers Balthasar Erben aus Danzig. Erbens bescheidene Tanzsätze sind in einem sehr französischen Stil gehalten und mit einer für die Zeit typischen Vielzahl von Manieren versehen. Die geradezu monumentale Passacaglia in d von Kerll, dem vornehmlich in Wien und München wirkenden Organisten und Kapellmeister, findet sich nicht im Hintze-Manuskript, aber in mehreren anderen Quellen der Zeit. In nicht weniger als 40 teilweise sehr chromatischen Variationen über ein Bassthema demonstriert Kerll, der zeitgleich mit Froberger in Rom studierte und wohl mehrmals gemeinsam mit ihm reiste, eindrucksvoll sein Können als Komponist und Virtuose. Weckmanns Toccata (IV) in a zeigt deutlich, dass die Frescobaldi'sche Toccatenform ihren Weg nach Deutschland schnell gefunden hat. Sie sollte die norddeutsche Orgelkunst über Jahrzehnte prägen.
Lange scheint es Froberger nie am selben Ort zu halten. Bei der Stippvisite in Wien 1649 erhält er ein Paket mit Noten des berühmten französischen Clavecinisten Chambonnières. Ob ihn da schon der Wunsch packte, den Komponisten kennenzulernen und die französische Clavierkunst ebenso persönlich zu erfahren wie zuvor die italienische? In Paris jedenfalls trifft er wohl erst 1651 ein – nach einer Reise über Dresden, die Niederlande und Brüssel. Das musikalische Leben der französischen Hauptstadt pulsierte. Auch wenn es keine handfesten Belege dafür gibt, ist es wahrscheinlich, dass der Deutsche in den Kreisen um Chambonnières verkehrte. Dessen Suiten sind der erste Höhepunkt der französischen Cembalokunst: Der zeitgenössische Gelehrte Marin Mersenne schwärmt von ihren »lieblichen Melodien« und der »Schönheit des Rhythmus«. Er kommt zu dem Schluss, in Chambonnières habe das Cembalo »seinen ultimativen Meister« gefunden. Tatsächlich sind Chambonnières' kurze Suitensätze Kleinodien, die in ihrer Lieblichkeit den vielleicht größten denkbaren Kontrast zu den wahnwitzigen Toccaten Frescobaldis bilden. Wie sehr sich Froberger für den französischen Suitenstil interessierte, zeigt die Partita II in d, die schon vor seinem Aufenthalt in Paris entstanden ist. Dort perfektioniert er seinen französischen Zungenschlag als Komponist – doch er hinterlässt auch musikalische Spuren, die möglicherweise wichtige Hinweise zur Interpretation seiner eigenen Werke bergen.
Wenn Louis Couperin, der junge Wilde im Gefolge Chambonnières, ein Prélude à l'imitation de Mr. Froberger komponiert, dann zitiert er damit zunächst einmal die ersten Takte einer Froberger'schen Toccata in a-Moll. Doch Couperin notiert sein Werk »non mesuré«: Er gibt zwar Tonhöhen vor und schafft Struktur durch ein ausgeklügeltes System von Bögen – eine genaue Angabe zur Länge der Töne sucht der Interpret hingegen vergebens. Diese zunächst rätselhafte Notation verleitet dazu, undifferenzierte Klangwolken zu produzieren – doch das ist wohl das Letzte, was der Komponist wollte. Ist es möglich, dass die Toccaten Frobergers und einige der Préludes Couperins zwei Seiten derselben Medaille sind? Die Toccaten ein wenig zu rigide im Korsett der klassischen Notation für den erwünschten quasi-improvisatorischen Effekt, während die Préludes sich vom Ausgangspunkt der scheinbar unbegrenzten Freiheit nähern? Und wäre es dann einen Versuch wert, das Prélude einmal wirklich im Gestus einer wilden Toccata zu interpretieren?
Wenn in den Toccaten Frobergers ein ähnlicher Reichtum an unterschiedlichsten Arpeggien, Vorhalten und anderen Verzierungen herrschen sollte wie in Couperins Préludes, ist es kein Wunder, dass der Komponist seine Werke am liebsten selber spielte. Die Verbreitung seiner Werke propagierte Froberger jedenfalls nicht – ganz im Gegenteil: Seine Gönnerin und Schülerin Sibylla von Württemberg-Montbéliard, auf deren Schloss Héricourt der Komponist seine letzten Jahre verbringt, schreibt nach dessen Tod an Frobergers langen und guten Freund Constantin Huyghens, dass viele mit der Musik des Meisters »nicht wisten mit umbzugehen, sondern selbige nuhr verderben«. Damit mag sie rechthaben. Und doch ist seine Musik auch nach fast 400 Jahren so berührend und zutiefst menschlich, dass es eine Schande wäre, sich nicht an ihr zu versuchen.
Mitwirkende
Im heutigen Konzert spielt Michael Borgstede auf einem Cembalomodell aus dem 17. Jahrhundert von Ruckers/Couchet in Antwerpen mit erweiterter Disposition und Dekor »à la française« (Nachbau von Burkhard Zander, Deutz am Rhein 1999).