Saison 2015/2016: Konzert 3
Salve Regina
Vokal- und Instrumentalwerke von Antonio Rosetti Raffaella Milanesi – Sopran Mayumi Hirasaki – Violine Corina Golomoz – Viola Compagnia di Punto Sendung auf WDR 3 am 11. Dezember 2015 ab 20:05 UhrMit freundlicher Unterstützung der Internationalen Rosetti-Gesellschaft e. V. (www.rosetti.de)
Sechzehn Jahre lang gehörte der Böhme Antonio Rosetti zur berühmten Kapelle des kunstsinnigen Fürsten Kraft Ernst von Oettingen-Wallerstein, bevor er 1789 an den mecklenburgischen Hof in Ludwigslust wechselte, an dem er seine letzten drei Lebensjahre verbrachte. Vier empfindsame Salve-Regina-Vertonungen des genialen Komponisten, die sich in Prag erhalten haben, stellt die Compagnia di Punto um den Hornisten Christian Binde gemeinsam mit der fulminanten italienischen Sopranistin Raffaella Milanesi vor. Dabei kombiniert sie die Vokalmusik mit passenden Sätzen aus Rosettis Konzert- und Sinfonieschaffen.
Programmfolge
Salve Regina A-Dur Murray F88: Allegro moderato
Violinkonzert D-Dur Murray C6: 2. Adagio poco andante (d-Moll)
Ah, care Jesu, peccavi B-Dur Murray F83. Adagio cantabile – Allegro
Violinkonzert d-Moll Murray C9: 2. Adagio (D-Dur)
Sinfonie C-Dur Murray A3: 2. Menuett – Trio
Salve Regina B-Dur Murray F84. Andante
Sinfonie C-Dur Murray A3: 3. Presto
Salve Regina Es-Dur Murray F85. Allegro non tanto
Violakonzert G-Dur Murray C15: 2. Grazioso (C-Dur)
Sinfonie G-Dur A41: 2. Menuett – Trio
Salve Regina G-Dur Murray F87. Andante
Violakonzert G-Dur Murray C15: 1. Allegro
Sinfonie G-Dur Murray A41: 3. Allegro scherzando (e-Moll)
Lichtvolles, mit Herzgefühl vorzutragen
Eine auffallend große Zahl böhmischer Musiker suchte und fand im Laufe des 18. Jahrhunderts eine neue Lebensperspektive in österreichischen und deutschen Hofkapellen – oft aus dem Wunsch heraus, damit der in ihrer Heimat immer noch herrschenden Leibeigenschaft zu entkommen. Zu den prominenteren unter diesen Musikern zählt Antonio Rosetti. »Einer der beliebtesten Tonsetzer unserer Zeit« nennt ihn der Publizist Christian Friedrich Daniel Schubart. »Auf allen Clavieren sieht man jetzt Rosettische Stücke, aus allen jungfräulichen Kehlen hallen seine Lieder wieder. Und gewiß, es lässt sich kaum etwas Leichteres, Lichtvolleres, Honigsüßeres denken, als die Stücke dieses Mannes. So leicht aber seine Sätze aussehen, so schwer sind sie vorzutragen, wenn man kein eigenes Herzgefühl hat.«
Niedergeschrieben hat Schubart das in seinen Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst in den 1780er Jahren. Da steht Rosetti in den Diensten des Fürsten Kraft Ernst von Oettingen-Wallerstein, der sich in der schwäbisch-fränkischen Grenzregion nahe Nördlingen eine kleine, aber feine Hofkapelle aufgebaut hat. Die erscheint sogar dem auf Bewerbungsreise Station machenden Wolfgang Amadeus Mozart 1777 auf den ersten Blick attraktiv. Rosetti, der etwa sechs Jahre Ältere, ist schon seit 1773 vor Ort. Der fast gleichaltrige Regent habe ihn damals »hilflos und von allen Mitteln entblößt, der Verzweiflung nahe« im Wald aufgegriffen, heißt es in einer Geschichte der Wallersteiner Hofkapelle. War der Prager Jesuitenzögling Rosetti da gerade aus jenen Diensten bei einem russischen Grafen namens Orlov entflohen, die ihm gut drei Jahre zuvor noch als willkommene Alternative zur bis dahin angedachten Klerikerlaufbahn erschienen waren?
In Oettingen-Wallerstein dient er sich jedenfalls im wahrsten Sinne des Wortes hoch, vom Lakaien zum Kontrabassisten, Kammermusikus und De-facto-Kapellmeister, der im April 1785 nach dem Weggang seines Landsmannes Johann Reicha nach Bonn die Leitung des Ensembles übernimmt. Rosetti ist inzwischen als Komponist weit bekannt. Nicht nur in Deutschland schätzt man seine Instrumentalwerke für Orchester- und Kammerbesetzungen – die erste Druckausgabe mit drei seiner Sinfonien ist 1779 in Paris erschienen, für dessen legendäre Concerts spirituels er alsbald mit weiteren Werke beauftragt wird. Im Spätherbst 1781 kann er sogar für mehrere Monate in die französische Hauptstadt reisen; danach ist er von Wallerstein aus noch in Ansbach, Augsburg und München, aber auch am Oberrhein zu Gast. Seine Werke spielt man inzwischen auch in London. Der Wechsel auf den wesentlich besser dotierten Kapellmeisterposten des Herzogs Friedrich Franz von Mecklenburg-Schwerin im Juli 1789 erscheint da nur folgerichtig; dort spielt die Vokalmusik eine wesentlich größere Rolle als in Wallerstein. Die von Rosetti komponierten Passions-Oratorien Der Sterbende Jesus und Jesus in Gethsemane Werke finden auch andernorts begeisterte Aufnahme – beim Musikenthusiasten Friedrich Wilhelm II. von Preußen in Berlin ebenso wie am Hof des Trierer Kurfürsten und Erzbischofs Clemens Wenzeslaus. Eine längere Erfolgskarriere ist Rosetti aber nicht mehr vergönnt, er leidet an Tuberkulose. Besorgt äußert sich der befreundete Speyrer Musikverleger Heinrich Philipp Bossler nach der Wiederbegegnung im Frühjahr 1792 in Berlin: »Wir sahen uns einander an – er erkannte mich gleich; aber ich staunte, da ich den muntern, launigten, gesunden Rosetti mir dachte, und ihn leider matt und krank antraf … Ich fürchte, wenn er nicht in die Hände eines recht guthen Arztes gerät, daß er wie unser guter Mozart unsere niedere Regionen bald verlassen wird.«
Am 14. Dezember 1791 war in Prag bei einer Gedenkfeier für Mozart noch jene Requiem-Vertonung Rosettis erklungen, die er einst in Wallerstein zur Trauerfeier für die junge Fürstin Marie Therese geschrieben hatte. Sie war nur etwa anderthalb Jahre nach der Hochzeit mit dem Fürsten Kraft Ernst bei der Geburt des ersten Kindes im März 1776 gestorben. Ob man dieses Requiem auch singt, als in den ersten Julitagen 1792 Rosetti in der mecklenburgischen Residenzstadt Ludwigslust zu Grabe getragen wird, ist nicht bekannt.
Rosettis geistliche Vokalwerke für Sopran und Instrumente, die heute Abend auf dem Programm stehen, stammen vermutlich sämtlich noch aus der Zeit in Oettingen-Wallerstein. Für die kurze Arie Ah, care Jesu, peccavi (F83 im Werkverzeichnis von Sterling E. Murray) lässt sich das damit belegen, dass die einzige Notenquelle, eine Abschrift aus dem Kloster Einsiedeln, das Datum 1786 trägt. Hier hat Rosetti einen offenbar ohne literarische Ambitionen gedichteten lateinischen Gebetstext in Musik gesetzt (und damit künstlerisch virtuos überhöht), in dem ein zerknirschter Sünder Jesus um Erbarmen anfleht. Die vier Vertonungen der marianischen Antiphon Salve Regina (F84/85/87/88) finden sich – ebenfalls als Manuskript-Unikate – in der Deutschen Staatsbibliothek Berlin, deren Grundstock die Musiksammlung des preußischen Hofes bildet. Sie sind dort mit vier weiteren Salve Regina-Kompositionen aus seiner Feder und seiner größer dimensionierten Vertonung des Bußpsalms Miserere mei Deus für drei Solisten, Chor und Orchester in einem Sammelband vereint. Vermutlich kam dieser Band erst Jahre nach Rosettis Tod über den Musiksammler Georg Poelchau nach Berlin. Ins katholische Oettingen-Wallerstein passen diese Werke jedenfalls weitaus besser als an einen protestantischen Hof im nördlicheren Deutschland, wo man in der Kirchenmusik die Landessprache bevorzugte und der Marienverehrung befremdet gegenüberstand. Die aber spricht mit großer Emphase aus dem mittelalterlichen lateinischen Text, dessen erste Zeilen dem fränkischen Benediktiner Hermannus Contractus von Reichenau aus dem frühen 11. Jahrhundert zugeschrieben werden, während man als Urheber der offensichtlich später hinzugefügten O-Anrufungen den einige Generationen jüngeren Bernhard von Clairvaux ansieht. Der Text führt eine Gruppe Betender vor Augen, die »seufzend, trauernd und weinend« und doch nicht ohne Hoffnung die Gottesmutter aus einem Tal der Tränen um Mitleid und Erbarmen anruft.
Viele der emphatischen Salve Regin-Vertonungen, die im Laufe der Musikgeschichte entstanden sind, geizen nicht mit expressiven Molltönungen und harschen Dissonanzreibungen. Antonio Rosetti, ganz Kind seiner Zeit, schlägt einen eher milden und zuversichtlichen, sogar heiteren und selbstbewussten Arienton überwiegend in Dur an. Er gliedert den Text in der Regel in drei musikalische Abschnitte, von denen der mittlere am stärksten in Nebentonarten ausweicht und neue melodische Motive einbringt. In den letzten Textzeilen greift die Musik die Thematik des Anfangs wieder auf, so dass die aus der Oper vertraute Da-capo-Form der Arie anklingt. Doch verfährt Rosetti dabei alles andere als schematisch; in jeder Vertonung sucht er andere Motive für die identischen Worte aus, setzt durch virtuose Sprünge, auffällige, oft ausgedehnte Melismen und harmonische Farbwechsel je unterschiedliche Akzente. Zweifellos hatte er bei der Komposition eine vorzügliche Sängerin vor Augen, der er in jeder der Arien die Möglichkeit geben wollte, mit ihrer flexiblen Stimme zu brillieren und gleichzeitig als Textinterpretin zu überzeugen. Der Standardinstrumentierung mit Streichern (zum Teil mit zwei Bratschenstimmen) und »Basso« (Continuo) fügt er in der G-Dur-Vertonung F87 als weitere Klangfarbe zwei Flöten hinzu.
Wenn diese reizvollen Arien vermutlich auch in Oettingen-Wallerstein entstanden sind, so hat Rosetti sie nicht zwingend für seinen Fürsten geschrieben. Nach dem Tod der Gattin war Kraft Ernst in eine tiefe Depression gefallen; auch finanziell am Boden, hatte er die meisten seiner Musiker entlassen und sich für einige Jahre nach Lothringen verabschiedet. Das ließ dem in Wallerstein ausharrenden Rosetti weiten Raum zum Komponieren, mag ihn aber auch veranlasst haben, den Kontakt zu diversen Notenverlegern zu suchen und zu weiteren Auftraggebern – darunter vielleicht der heute unbekannte Adressat des Salve Regina-Zyklus. Später mögen die Werke auch in Ludwigslust als Konzertstücke gesungen worden sein – zwei Töchter Rosettis waren dort noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein als Hofsängerinnen angestellt.
Wenn die Compagnia di Punto die Vokalwerke Rosettis heute in einen konzertant-sinfonischen Rahmen einbettet, darf sie sich dabei auf historische Vorbilder berufen. So belegen für 1786 die einzigen erhaltenen Konzertprogramme aus Rosettis Zeit in Oettingen-Wallerstein, dass man die musikalischen Abende dort gerne sinfonisch begann und beschloss; dazwischen waren Solokonzerte und Vokalmusik zu hören. So werden die Salve Regina-Vertonungen und das Ah care Jesu, peccavi auch jetzt in zwei Sinfonien Rosettis in C-Dur (A3) und G-Dur (A41) eingebettet, in Sätze aus den zwei Violinkonzerten in D-Dur und d-Moll (C6 und C9) sowie aus dem Viola-Konzert G-Dur (C15). Das weitet den Blick auf die kompositorische Vielseitigkeit Rosettis, der in seiner Orchestermusik unverkennbar das Vorbild Joseph Haydn vor Augen hat mit seiner experimentierfreudigen Durchformung prägnanter musikalischer Themen und der Lust auf immer wieder überraschende Harmoniefolgen. Gerade im Kontext der Vokalmusik wird aber auch klar, dass Rosetti in den Solokonzerten neben der Freude an der virtuosen Entfaltung dem Wunsch folgt, Arien ohne Worte zu formen – die Adagio-Sätze für Violine und das Grazioso des Bratschenkonzerts sprechen da für sich.
So konnte sich auch 1789 ein Pater des Münchner Hieronymitenklosters den ersten Satz der C-Dur-Sinfonie, mit dem das heutige Programm beginnt, ohne weiteres als geistliches Vokalwerk vorstellen: er hat dem Orchestersatz vier Vokalstimmen hinzugefügt und das Ganze als Sakraments-Litanei textiert.
Mit freundlichem Dank an Günther Grünsteudel, Augsburg, für seine wertvollen Hinweise.
Mitwirkende
Mayumi Hirasaki - Violine
Corina Golomoz - Viola
Compagnia di Punto
Im heutigen Konzert spielt die Compagnia di Punto in folgender Besetzung:
Violine 1
Mayumi Hirasaki, Andreas Hempel, Cécile Dorchene, Martyna Pastuska
Violine 2
Marieke Bouche, Malina Mantcheva, Danylo Gerstchev, Zsuzsanna Centnar
Viola
Florian Schulte, Corinna Golomoz, Antje Sabinski
Violoncello
Alexander Scherf
Kontrabass
Elise Christiaens
Flöte
Annie Laflamme, Gudrun Knop
Horn
Christian Binde, Vanhoc Hoang
Fagott
Tomasz Wesolowski
Orgel
Luca Quintavalle