Saison 2015/2016: Konzert 4
Weynacht Gesaenge
Musik von Pierre de Manchicourt, Orlando di Lasso, Leonhart Schröter, Hans Leo Hassler, Samuel Scheidt, Michael Praetorius u.a. Stimmwerck Sendung auf WDR 3 am 25. Dezember 2015 ab 18:05 UhrEin besonderes Weihnachtskonzert bietet das Münchner Vokalensemble Stimmwerck mit Musik von der Gregorianik bis zu frühbarocken Meistern wie Michael Praetorius und Samuel Scheidt. Da paart sich in der hohen Kunst des Ensemblegesangs vokale Perfektion mit geistlicher Durchdringung und lässt selbst solch bekannte Weisen wie »Joseph, lieber Joseph mein« und »Mit Ernst, o Menschenkinder« im meisterlichen Renaissancestil eines Leonhart Schröter oder Hans Leo Hassler ansprechend neu hören.
Programmfolge
Hans Newsidler (1508/09–1563)
Conrad Rupsch (um 1475–um 1530)
Hans Newsidler
Orlando di Lasso (1532–1594)
aus »Prophetiae Sibyllarum«
Sibylla Persica: Virgine matre satus
Sibylla Agrippa: Summus erit sub carne satu
Hans Newsidler
Hans Leo Hassler (1564–1612)
Michael Praetorius
Johannes Heugel (um 1540–1582)
Im musikalischen Spannungsfeld der Reformationszeit
Ankommen, zur Ruhe kommen, sich besinnen und eine Zeit lang innehalten, das ist in diesen Tagen ein oft ersehntes Gut. Heiligabend steht bevor, Weihnachten, ein Fest der Stille. Genau an diesem Punkt setzt das heutige Konzert an: Statt Pauken und Trompeten, groß besetztem Orchester und Chor ist das kleine, aber feine Münchener Vokalensemble Stimmwerck gemeinsam mit dem Lautenisten Julian Behr und ruhigen »Weynacht Gesaengen« zu erleben. Mit Gregorianik und kunstvollen lateinischen Motetten zeichnen sie die stilistische Entwicklung der Musik zur Zeit der Reformation nach. Ergänzt wird dieses ungewöhnliche Konzertprogramm durch Werke für Laute.
Viele der Komponisten des heutigen Abends stammten aus nordfranzösischen und niederländischen Sprachgebieten und reisten oft jahrelang durch die Lande, um den Fürsten und Königen zu dienen, die sie an ihre Höfe verpflichteten. Die hohe Zahl an Vertonungen geistlicher Stücke zeigt die Bedeutung der Kirchenmusik im 16. Jahrhundert, die die Hofkomponisten ganz nach den Bedürfnissen ihrer Dienstherren schrieben. Dabei kamen sie mit vielen unterschiedlichen Musikarten in Berührung, was zu einer Synthese verschiedener Kompositionstechniken und einer groß en Stildichte in Europa führte. Innerhalb dieser sogenannten franko-flämischen Schule entwickelten sich Kantoreien großer Kathedralen und Hofkapellen der Fürstenhöfe von Burgund, Florenz oder Ferrara zu wichtigen kulturellen Zentren ihrer Zeit.
Gleichzeitig suchten aber auch die in Deutschland geborenen Komponisten ihren Weg durch die verschiedenen Stilarten. Einer von ihnen war Heinrich Finck. Seine vierstimmige Motette Ecce virgo verwendet eine gregorianische Melodie als Cantus firmus, den der Tenor als tragende Stimme übernimmt. Über den in Bamberg geborenen Finck gibt es nur bruchstückhafte biografische Informationen. Erst in Polen tätig, soll er ab 1510 für einige Jahre als Kapellmeister am Stuttgarter Hof gewirkt haben. Zeitgenossen sahen in ihm den »einzigen deutschen Meister«, dem es trotz der vorherrschenden franko-flämischen Schule gelang, unbeirrt seine musikalischen Vorstellungen zu verwirklichen.
Heinrich Isaac hingegen reizte genau dieses Nebeneinander verschiedener Stile, denen er sich begeistert annahm: Früh siedelte er von Flandern nach Italien über und verbrachte den Großteil seines Lebens im Umfeld der einflussreichen Fürstenfamilie Medici in Florenz. Lorenzo de’ Medici warb ihn zunächst als Sänger und Organist der cantori S. Giovanni an, bevor er 1496 vom römisch-deutschen König und späteren Kaiser Maximilian I. nach Wien gesandt wurde. Dort, am habsburgischen Hof, wirkte Isaac als Kapellmeister. Seine zahlreichen Messordinarien und Motetten zeigen ein Nebeneinander franko-flämischer und deutscher Stilmittel und galten den Zeitgenossen als Inbegriff einer musikalischen ars perfecta, einer vollendeten Kunst. Die vertonten Texte sind vielfältig und entstammen zum großen Teil der kirchlichen Liturgie. Auch das Alma redemptoris mater hat dort seinen festen Platz: Die marianische Antiphon richtet sich an die Mutter Gottes und dient in der katholischen Kirche häufig als Schlussgesang der Stundengebete.
Italien war 1545 auch die erste wichtige Wirkungsstätte von Orlando di Lasso, der schon in seiner franko-flämischen Heimat durch Kontakte zu Adelskreisen mit italienischer Musik in Berührung gekommen war. 1551 gelangte er nach Rom, kehrte aber drei Jahre später in den Norden zurück. Von Antwerpen ging er 1556 nach München, wo er bis zu seinem Tod das Kapellmeister-Amt der herzoglichen Hofkapelle bekleidete. Lasso erlangte mit seinem umfangreichen musikalischen Œuvre an weltlichen wie geistlichen Werken internationalen Ruhm. Einen hohen Stellenwert nehmen seine Prophetiae Sibyllarum (die Weissagungen der zwölf Sibyllen) ein, die vermutlich in den 1550er Jahren entstanden. In der Literatur der Antike waren die Sibyllen Prophetinnen, die unaufgefordert die Zukunft voraussagten. Lasso bezieht sich im Prolog Carmina chromatico und im Virgine matre satus aber auf urchristliche Texte, die von der Geburt und dem Schicksal des Gottessohnes sprechen. Es sind rätselhafte Zeilen, die Lasso in für seine Zeit ungewöhnliche, mit vielen Halbtonschritten durchsetzte Harmonien fasste.
Weniger rätselhaft erscheint dagegen das bekannte Weihnachtslied Es ist ein Ros entsprungen, das erstmals 1599 im Speyerer Gesangsbuch gedruckt wurde und noch heute zur Tradition jedes Weihnachtssingens gehört. Populär wurde es im 1609 veröffentlichten mehrstimmigen Satz von Michael Praetorius, dem unermüdlichen Choralbearbeiter am Übergang von der Renaissance zum Frühbarock Der Pfarrerssohn aus Thüringen widmete sich nach einem abgebrochenem Theologiestudium der Musik und trat in Wolfenbüttel eine Stelle als Organist an; später wurde er dort zum Hofkapellmeister ernannt. Anders als viele Komponistenkollegen seiner Zeit blieb Praetorius sein Leben lang in Deutschland und veröffentlichte neben zahlreichen Vokalwerken als musikwissenschaftliche Schrift das dreiteilige Syntagma musicum, die heute wichtigste Quelle zur Aufführungspraxis deutscher Musik im Frühbarock. Der Text Es ist ein Ros entsprungen beruht auf dem Buch Jesaja: »Und ein Reis [Spross] wird hervorgehen aus dem Stumpfe Isais und ein Schößling aus seinen Wurzeln wird Frucht bringen.« Praetorius unterlegte der zweiten Strophe einen abgeänderten Text, der seiner lutherischen Theologie entsprach und die Thematik der unbefleckten Empfängnis umging: aus »und blieb doch reine Magd« wurde »wohl zu der halben Nacht«.
In der Fassung von Praetorius ist auch Der Morgenstern ist aufgedrungen zu hören, eine Dichtung des Pfarrers Daniel Rumpius, die 1587 im Druck erschien. Sie greift die weltliche Tagelied-Form des Mittelalters auf, den einem Liebespaar zugedachten Weckruf bei Tagesanbruch.
Im Rahmen seiner Organistentätigkeit lernte Michael Praetorius auch Samuel Scheidt kennen. Scheidt, der sich vor allem als Organist in Halle an der Saale einen Namen gemacht hatte, veröffentlichte 1620 seine große Vokalsammlung Cantiones sacrae. O Jesulein zart aus seinem Tabulatur-Buch von 1650 ist eines der zahlreichen Weihnachtslieder, die die Anbetung an der Krippe schildern. Der Charakter und die Zartheit des Liedes spiegeln sich in der behutsamen Melodie- und Rhythmusführung wider, die alles Bedrohliche fernzuhalten scheint.
Die Liedweise Joseph, lieber Joseph mein geht auf den mittelalterlichen lateinischen Weihnachtshymnus Resonet in laudibus zurück und ist heute im Satz von Leonhard Schröter zu hören, der als lutherischer Kantor in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Saalfeld und Magdeburg wirkte.
Wie Michael Praetorius stand auch Hans Leo Hassler zwischen zwei Musikepochen. Die späte Renaissance-Polyphonie wich vor allem in seinen Liedsätzen immer mehr einer schlichten, aber doch sehr charaktervollen Homophonie - wie hier im Satz über die ursprünglich weltliche Weise La Monica auf den adventlichen Text des Königsberger Theologen und Dichters Valentin Thilo, Mit Ernst, o Menschenkinder.
Gemessen an den überlieferten Notenquellen, kam der Instrumentalmusik an der Schwelle vom 16. zum 17. Jahrhundert noch kein so hoher Stellenwert zu wie der Vokalmusik. Doch nahm die Laute, eines der ältesten Musikinstrumente überhaupt, damals eine durchaus wichtige Rolle ein: Als Solo- und Ensembleinstrument war sie Trägerin mehrstimmiger Kompositionen, gehobener Tanz-, Gebrauchs- und Hausmusik. Neben komponierenden Sängern wurden zunehmend auch hoch bezahlte Lautenisten an die Fürstenhöfe verpflichtet. Als einer der Hauptvertreter der frühen deutschen Lautenmusik gilt der in Pressburg geborene Hans Newsidler. Seine Notenbücher mit Stücken nahezu aller damals gängigen Gattungen enthalten zudem detaillierte Spielanweisungen in der Griffnotation der deutschen Lautentabulatur. Ein gut organistisches Preambel und Nunnentanz können so auch als Übungsstücke gesehen werden, die sich an Laien wie erfahrene Lautenisten richteten. Dass auch so bekannte Vokalweisen wie In dulci jubilo im Satz von Praetorius in einem ganz anderen Klangbild erscheinen können, zeigt Julian Behr in seiner Bearbeitung des Stückes für Laute solo.
Mitwirkende
Franz Vitzthum - Kontratenor
Klaus Wenk - Tenor
Gerhard Hölzle - Tenor
Marcus Schmidl - Bass-Bariton
Julian Behr, Laute