Saison 2019/2020: Konzert 1

Sonntag, 22. September 2019 WDR-Funkhaus 17 Uhr

Il San Vito

Bernardo Pasquini: Il Martirio dei Santi Vito, Modesto e Crescenzia sotto la Titrannide di Diocleziano Concerto Romano Alessandro Quarta Concerto Romano Sendung auf WDR 3 am 6. Oktober 2019 ab 20:04 Uhr

Bernardo Pasquini ist nördlich der Alpen vor allem als Organist bekannt, zu dem seinerzeit Talente wie Georg Muffat und Johann Philipp Krieger nach Rom pilgerten, um sich in der Tastenkunst den letzten Schliff zu holen. Das Ensemble Concerto Romano stellt ihn mit seinem Oratorium über den Heiligen Vitus von Sizilien einmal als grandiosen Musikdramatiker vor. Das Werk von 1687, das mit einer atemberaubenden Apotheose des Märtyrers im Kolosseum endet, ist beim Forum Alte Musik Köln in deutscher Erstaufführung zu erleben.

Programmfolge

Bernardo Pasquini (1637-1710) Il Martirio dei Santi Vito, Modesto, e Crescenzia sotto la Tirannide di Diocleziano Imperatore Das Martyrium der Heiligen Vitus, Modestus und Crescenzia unter der Herrschaft Kaisers Diokletians Oratorium in zwei Teilen (Rom um 1680?) Text von Domenico Filippo Contini Pause nach dem ersten Teil

Ein perfekter Opern-Plot

Wer das Glück hatte, unter der Anleitung des hochberühmten Signore Bernardo Pasquini in Rom zu spielen oder zu lernen, oder wer sein Spiel wenigstens hören oder sehen konnte, der hatte Gelegenheit, die wahrhaftigste, schönste und edelste Art des Solospiels und der Begleitkunst kennenzulernen.

So formuliert es der Komponist Francesco Gasparini in seiner wegweisenden Abhandlung L’armonico prattico al cimbalo, die 1709 in Venedig erschien – ein Jahr vor dem Tod Pasquinis im Alter von fast 73 Jahren.

Die Bedeutung dieses Musikers aus der Toskana, der sich in den 1650er-Jahren in der Obhut eines Onkels in Ferrara zum Organisten ausbilden ließ und dann nach Rom ging, ist allen bewusst, die sich mit dem Cembalo- oder Orgelspiel beschäftigen. Sie stoßen häufig auf seine Kompositionen, die für die Entwicklung der spätbarocken italienischen Tastenmusik von fundamentaler Bedeutung sind. Weit weniger bekannt die Vokalmusik Pasquinis, die sich hauptsächlich aus Solokantaten, Opern und Oratorien zusammensetzt und römische Glanzstücke der Gesangskunst im späten 17. Jahrhundert bietet.

Mit Alessandro Stradella, Arcangelo Corelli und Alessandro Scarlatti gehört Pasquini zu jener glücklichen Komponistengeneration, die in Rom unter dem Mäzenatentum solch herausragender Persönlichkeiten wie Kardinal Pietro Ottoboni und Christina von Schweden für eine musikalische Blüte sorgten. Damit trugen sie entscheidend zur stilistischen und formalen Weiterentwicklung der instrumentalen und der dramatischen vokalen Musik in Italien bei, die bis in den Spätbarock fortwirkte.

Oratorienaufführungen wurden während Pasquinis Jahren in Rom wie Konzerte organisiert, nichstdestoweniger ging es hier um opernhafte Vertonungen dramatischer Stoffe. Auf eine Inszenierung und auf Kostüme wurde zwar verzichtet, man gab aber meist ein Gemälde in Auftrag, das im Bühnenhintergrund den Gegenstand der Handlung thematisierte. Außerdem agierten die Sänger auf diskrete Art, indem sie sich der üblichen theatralischen Posen und Gesten bedienten. Die Oratorien waren zweiteilig angelegt; dazwischen predigte ein Kleriker über den Gegenstand des Werks.

Das Oratorium leitet seinen Namen von seinem ursprünglichen Aufführungsort ab – einem liebevoll ausgeschmückten Saal, der sich in der Regel neben einer Kirche befindet und von einer Laien-Kongregation erbaut wurde und oft bis heute unterhalten wird. Im 17. Jahrhundert begann man aber auch, Oratorien-Kompositionen in Privathäusern aufzuführen – insbesondere in Adelspalästen, in denen eine Kapelle für private Andachten zur Verfügung stand. Die Weihnachtszeit und die vorösterliche Fastenzeit mit der Karwoche waren die Hoch-Zeiten für Oratorienaufführungen. Ebenso gab es sie aber an Gedenktagen bestimmter Heiliger. Moralische Kantaten und Oratorien per ogni tempo waren dagegen nicht an den liturgischen Kalender gebunden.

Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts war in Rom ein Goldenes Zeitalter des Oratoriums. In einer Stadt, in der man aufgrund moralischer Bedenken seine Probleme mit Theateraufführungen hatte, bediente diese Gattung nämlich die Nachfrage nach musikdramatischen Werken. Daher zeigen die Oratorienlibretti in Pasquinis Zeit unabhängig von ihrem geistlichen oder moralischen Thema eine vollkommen opernhafte Gestaltung, die auch Kampfszenen und Liebesszenen zulässt.

Als Vokalkomponist entwickelt Pasquini eine musikalische Bandbreite, die man als Zeichen eines Übergangstils deuten kann. Weil seine Vokalwerke heute weniger bekannt sind, glaubt man in ihrer Kompositionsweise gelegentlich die dramatischen Akzente eines Alessandro Stradella zu erkennen, die thematische Geschliffenheit des jungen Alessandro Scarlatti, einiges von der Violintechnik Arcangelo Corellis und sogar etwas aus Georg Friedrich Händels Stil seiner römischen Jahre. Doch war Pasquini älter als alle diese Komponisten, so dass oft seine Genialität war den Zeitgenossen als Richtlinie und Modell diente. Andererseits hört man gerade in Il San Vito auch den Einfluss von Pasquinis römischem Lehrer, dem großen Opernkomponisten Antonio Cesti.

Wir besitzen keine Dokumente über einen Kompositionsauftrag zu Il San Vito oder über die erste Aufführung. Vitus war in Rom immer schon ein hochverehrter Heiliger; noch heute existiert hier eine kleine Kirche aus dem 13. Jahrhundert, die ihm und dem Heiligen Modestus geweiht ist. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass die Vorsteher dieser Kirche ein solches Oratorium bei Pasquini in Auftrag gaben. Das überlieferte Partiturmanuskript eines römischen Kopisten, das heute in der Biblioteca Estense in Modena verwahrt wird, legt aber eine andere Möglichkeit nahe: Der Musikhistoriker Arnaldo Morelli fand Angaben zu Oratorienaufführungen anlässlich der Reise des Herzogs Francesco II. dʼEste von Modena nach Rom, die durch seine dort lebende Mutter Laura Martinozzi organisiert wurden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit gehörte Il San Vito zu dieser Aufführungsreihe. Vermutlich gab Laura Martinozzi oder der Herzog selbst den Auftrag, Partiturkopien dieser Pasquini-Werke für weitere Aufführungen an den Este-Hof in Modena zu schicken.

Einer der faszinierendsten Aspekte von Il San Vito ist das unglaubliche Einvernehmen zwischen Pasquini und seinem Textautor, dem Abt Domenico Filippo Contini. Der ist vor allem als Librettist zu Alessandro Scarlattis erster erfolgreicher Oper ein Begriff, Gli equivoci nel sembiante. In den 1680er-Jahren war Contini schon ein berühmter Librettist, der von den Familien Orsini, Colonna und Barberini gefördert wurde und mit Pasquini schon vor Il San Vito zusammengearbeitet hatte. Contini war ein Mann des Theaters. Die Heiligenlegende des Vitus – mit einem grausamen römischen Kaiser, Exorzismus, Wundern und dem Märtyrertod im Kolosseum – reichten ihm noch nicht für ein Drama in Technicolor, wie es der römische Adel in seinen Oratorien erwartete. Es fehlte die Romantik – Amore! So wurde unter Continis Händen aus dem Sohn des Kaisers, von dem die Legende erzählt, Valeria, die hübsche Kaisertochter, die sich in Vitus verliebt. Ein perfekter Opern-Plot!

Pasquinis reifer Vokalstil in Il San Vito reißt das Publikum mit. Einerseits bietet er reichlich beschreibende Madrigalismen: Koloraturen, Dissonanzen und harsche Modulationen zeichnen die Affekte des Textes detailliert nach. Gleichzeitig ist Pasquini überraschend versiert im Aufbau einer dramatischen Spannung im modernen Sinne. Er kreiert rein theatralische Affekte wie das Lachen in Valerias Arie Mi fai pur ridere, Affektgegensätze wie Diokletians Arie Gran portento und die hochemotionale Duo-Szene zwischen Vito und Valeria in der zweiten Werkhälfte. Mit dem Trio am Ende des ersten Teils zählen sie zu den Höhepunkten dieses Oratoriums.

Alessandro Quarta

Mitwirkende

Paola Valentina Molinari (San Vito) – Sopran Sonia Tedla Chebreab (Valeria) – Sopran Chiara Brunello (Santa Crescenzia) – Alt Riccardo Pisani (San Modesto) – Tenor Mauro Borgioni (Diocleziano) – Bariton Concerto Romano Paolo Perrone, Gabriele Politi – Violine Pietro Meldolesi – Viola Rebeca Ferri – Violoncello Matteo Coticoni – Violone Francesco Tomasi – Theorbe, Gitarre Andrea Buccarella – Orgel Salvatore Carchiolo – Cembalo Ltg. Alessandro Quarta