2020/2021: Konzert 1

Sonntag, 6. September 2020 WDR-Funkhaus 17 Uhr

Arie napoletane

Vokal- und Instrumentalmusik von Alessandro Scarlatti, Francesco Mancini, Nicola Antonio Porpora, Leonardo Leo, Domenico Sarri und Georg Friedrich Händel Andreas Scholl Ensemble 1700 Ltg. Dorothee Oberlinger Andreas Scholl, Dorothee Oberlinger Sendung auf WDR 3 am 26. Oktober 2020 ab 21.04 Uhr

Neapel, die neue Stadt der alten Griechen am Fuße des Vesuvs, wurde im Laufe der Jahrhunderte zum Schmelztiegel der Kulturen. Das hinterließ auch musikalisch seine Spuren, zeigen zum Auftakt der Saison zwei Weltstars der Alten Musik: der Countertenor Andreas Scholl und die Blockflötistin Dorothee Oberlinger mit ihrem Ensemble 1700. Sie präsentieren Arien und Concerti von barocken Weltstars wie Georg Friedrich Händel, Alessandro Scarlatti und Nicola Antonio Porpora, darunter manches heute kaum mehr bekannte Juwel.

Programmfolge

Alessandro Scarlatti (1660–1725) Sinfonia aus der Serenata Clori, Dorino e Amore für 2 Violinen, Viola und Basso continuo Largo – Presto – Minuet – Grave Cantata Filen, mio caro für Alt, Blockflöte, 2 Violinen und Basso continuo Francesco Mancini (1672–1737) Concerto d-Moll für Blockflöte, 2 Violinen und Basso continuo Amoroso – Allegro – Largo – Allegro Nicola Antonio Porpora (1686–1768) Cantata Ecco che il primo albore für Alt, 2 Violinen und Basso continuo Leonardo Leo (1694–1744) Concerto Nr. 1 G-Dur für Blockflöte, 2 Violinen und Basso continuo Allegro – Siciliana. Largo – Allegro Georg Friedrich Händel (1685–1759) Cantata Mi palpita il cor für Alt, Blockflöte und Basso continuo Domenico Sarri (1679–1744) Concerto a-Moll für Blockflöte, Streicher und Basso continuo Largo – Allegro – Larghetto – Spiritoso Nicola Antonio Porpora Aria Torcere il corso all’onde aus der Oper Il trionfo di Camilla für Alt, Blockflöte, Streicher und Basso continuo

Neapels singende Spache

Neapel, die neue Stadt der alten Griechen am Fuße des Vesuvs, wurde im Laufe der Jahrhunderte zum Schmelztiegel der Kulturen. Neapel geriet unter die Herrschaft der Römer und Byzantiner, der Normannen und Staufer, der Franzosen, Spanier und Österreicher. Die gut zwei Jahrhunderte, in denen sie mit ihrem Umland als Vizekönigreich Spaniens regiert wurde, bescherten der Stadt eine besondere kulturelle Blüte.

Die verschiedenen Konservatorien vor Ort – karitative Ausbildungsstätten für jugendliche Talente – sorgten für den musikalischen Nachwuchs aus den eigenen Reihen. Darüber hinaus zog die Stadt Künstler aus der Ferne an. Das heutige Programm eröffnet Einblicke in die spätbarocke Musiksprache Neapels – eine Sprache, die durch ihre Sanglichkeit für sich einnimmt, ob sie nun vokal oder instrumental erklingt.

Beherrschender Musiker vor Ort war vom späten 17. bis ins 18. Jahrhundert hinein Alessandro Scarlatti, der aus

Sizilien stammte, sich zunächst in Rom als Komponist profiliert hatte und 1683 erstmals mit einer römischen Operntruppe in Neapel gastierte. Im Jahr darauf war er dort schon der neue Hofkapellmeister am Palazzo reale, und er blieb es – von den Jahren 1703 bis 1708 abgesehen – bis zu seinem Tod 1725.

Scarlatti machte sich vor allem als Vokalkomponist einen Namen. Seine Fähigkeiten in der Gestaltung rein instrumentaler Sätze stellte er auch da regelmäßig unter Beweis.

So entpuppt sich die Sinfonia zur Serenata Clori, Dorino e Amore als harmonisch kraftvolles, aber auch virtuoses Ensemble-Concerto. Mit dieser kurzen vierteiligen Satzfolge dürfte es Scarlatti am 1. Mai 1702 spielend gelungen sein, die Aufmerksamkeit des Publikums für das nachfolgende allegorische Huldigungsstück zu gewinnen. Das galt Philipp V. von Spanien, der gerade zu Besuch in seinem italienischen Vizekönigreich weilte.

Einen verhalteneren, bukolischen Ton schlägt Scarlatti dagegen in seiner Alt-Solo-Kantate Filen, mio caro bene an, in der sich zum Instrumentalensemble aus zwei Violinen und Basso continuo noch eine Flöte gesellt: Wir befinden uns in der idyllischen Phantasielandschaft Arkadien, in der die Schäferin Phyllis den Schäfer Phylenos von ihrer Treue zu überzeugen sucht. Ihre Liebesbeteuerungen kleidet sie in zwei expressive Satzpaare aus Rezitativ und Arie. Da intensivieren zunächst Streicherakkorde die Gesangsdeklamation, danach nimmt eine melodiös schmeichelnde Flöte den verführerischen Ariengesang vorweg. In resolutem Ton singt Phyllis in der zweiten Arie von ihrer Entschlossenheit, die Liebestreue sogar durch ihren Tod zu beweisen.

Ein neapolitanisches Manuskript aus Scarlattis Todesjahr 1725 unterstreicht die bedeutende Rolle der Blockflöte in der Instrumentalmusik dieser Zeit. Die Sammelhandschrift vereint 24 Sonaten für Flauto dolce, zwei Violinen und Continuo. Das sind Kammerkonzerte, die auf geniale Art den kontrapunktisch anspruchsvollen Quartettsatz für drei Oberstimmen und begleitenden Bass mit dem Prinzip des Solokonzertes verbinden. Immer wieder hebt sich die Flöte nicht nur klanglich, sondern auch in der Melodieführung von den Streichern ab. Scarlatti selbst ist in der Sammlung mit zwei Werken vertreten. Die Mehrheit der Stücke stammt aber von Francesco Mancini. Ein Absolvent des Conservatorio della Pietà dei Turchini, war er später dort und am Nachbarinstitut Santa Maria di Loreto als Lehrer tätig. Bei Hofe stieg er 1707 zum Kapellmeister auf. Die Rückkehr Scarlattis im Januar 1709 bedeutete für Mancini allerdings, dass er sich vorerst wieder mit der Vizeposition begnügen musste.

Eine ähnliche Karriere beschritt der sieben Jahre jüngere Domenico Sarri aus Trani in Apulien, der seine Ausbildung am Conservatorio San Onofrio erhalten hatte. Er bekleidete am Hof die Vize-Position unter Scarlatti und später unter Mancini, nach dessen Tod er 1737 Kapellmeister wurde. Sein viersätziges Blockflötenkonzert, das ebenfalls unter den 24 neapolitanischen Sonaten überliefert ist, verlangt zum Soloinstrument die volle Streicherbegleitung inklusive Bratsche. Deutlicher als bei Mancini stellt sich die Flöte hier als Solistin vor, der die übrigen Instrumente die Bühne für ihre Auftritte bereiten. Selbst in den schnellen Sätzen betont Sarri die lyrischen Qualitäten des Flauto dolce.

Auch Leonardo Leo kam aus Apulien; als Zögling des Conservatorio della Pietà dei Turchini profilierte er sich früh als Komponist von Opern und geistlicher Vokalmusik, und das weit über Neapel hinaus. Eine Generation jünger als Mancini und Sarri, rückte er bei Hofe 1737 zum Vize- und 1744 zum Ersten Kapellmeister auf. Der Generationensprung ist seiner Musik anzuhören: Sein Flötenkonzert Nr. 1 folgt der modernen dreisätzigen Form und lässt die virtuosen Solofiorituren zu Beginn über einer galanten Trommelbassbegleitung erblühen. Im Mittelsatz lässt der erprobte Opernkomponist die Flöte eine Arie im betörenden Wiege-Rhythmus einer Siciliana singen.

Das eigentliche künstlerische Erbe Scarlattis sollte der Neapolitaner Nicola Porpora antreten. Am Conservatorio dei Poveri di Gesù Cristo ausgebildet, machte er sich spätestens 1711 mit der Aufführung seiner Oper Fabio Anicio Olibrio im königlichen Palast einen Namen – schon im Jahr darauf spielte man seine Werke auch in Rom. Später wechselte Porpora nach Venedig, von 1733 bis 1737 war er in London engagiert, von 1747 an für mehr als vier Jahre am Dresdner Hof und danach in Wien, bevor er 1760 in seine Heimatstadt Neapel zurückkehrte. Überall war er auch als Gesangslehrer gefragt – zu seinen Schülern zählen ebenso der Kastrat Farinelli und der Librettist Metastasio wie der junge Joseph Haydn.

Porporas Zeit in London ist eng verknüpft mit dem dortigen Wirken des ein Jahr älteren Georg Friedrich Händel. Der hatte sich in der englischen Hauptstadt nicht nur als Komponist, sondern auch als Opernunternehmer etabliert, dem nun rivalisierende adelige Musikenthusiasten als Geldgeber mächtige Konkurrenz bescherten, mit dem Komponisten Porpora und dem Kastraten Senesino als Zugpferden. Letztlich gingen daran beide Opernunternehmen zugrunde.

Begegnet sind sich Porpora und Händel aber vermutlich schon in Neapel, wo der Deutsche im Frühjahr 1708 für einige Wochen von Rom aus zu Gast war. Er lieferte da als Auftragswerk für eine Adelshochzeit seine Serenata Aci, Galatea e Polifemo ab, die schließlich Mancini im Palazzo reale zur Aufführung brachte, weil Händel schon

wieder zurückgereist war. Keine vier Monate später fand an gleicher Stelle die Uraufführung von Porporas Opernerstling Agrippina statt.

Im heutigen Programm treten Porpora und Händel in zwei Solokantaten in Konkurrenz: Der Neapolitaner, dessen mehr als hundert Beiträge zu diesem Genre europaweit in historischen Manuskripten überliefert sind, beschwört in Ecco che il primo albore durch das Instrumentalvorspiel die fahle Stimmung der vergehenden Nacht herauf, bevor er in einem ausinstrumentierten Rezitativ die Natur erwachen lässt. Dem pastoralen Bild eines zufrieden in der Nähe einer Quelle grasenden Schafes widmet er die lyrische erste Arie, während der virtuose Schlusssatz in rasenden Koloraturen die Bedrohungen ausmalt, denen dieses Schaf ohne die schützende Sorgfalt seines Hirten ausgesetzt wäre.

Ob Händel seine Kammerkantate Mi palpita il cor noch in Italien oder erst kurz nach seiner Rückkehr in den Norden komponierte, lässt sich heute nicht mehr klären. Dass er das Werk selbst sehr schätzte, zeigen die unterschiedlichen Fassungen für Alt und Flöte, Sopran und Oboe, die er zu verschiedenen Gelegenheiten anfertigte. Das konzertierende Instrument spiegelt die wechselnden Affekte der Vokalpartie wider und intensiviert sie. Mit klopfendem Herzen, die Seele in Aufruhr: so begegnet uns hier ein liebeskranker Hirt, der seine Clori anfleht, ihn zu erhören. Am Ende gelingt es ihm wenigstens, sich in jubilierenden Koloraturen der Vision künftiger Liebesseligkeiten hinzugeben.

Wer mag entscheiden, welche dieser so unterschiedlichen und doch gleichermaßen vollendeten Kantaten die schönere ist? – Überlassen wir stattdessen einer weiteren Aria napoletana das letzte Wort. Es ist ein hinreißender Auszug aus Porporas Oper Il trionfo di Camilla von 1740. Wie schon die Kantaten gezeigt haben, sind die barocken Textdichter nie um originelle Allegorien verlegen. Den furiosen, orchesterumtosten Vokallinien, die in den Rahmenteilen vom mühevollen Umleiten eines Flusses singen, ist hier das flehend-innige Arioso des liebenden Herzens entgegengestellt, das nicht anders kann als treu zu sein.

bebe

Mitwirkende

Andreas Scholl – Countertenor Ensemble 1700 Ltg. Dorothee Oberlinger – Blockflöte Im heutigen Konzert tritt das Ensemble 1700 in folgender Besetzung auf: Dorothee Oberlinger – Blockflöte Evgeny Sviridov, Anna Dmitrieva – Violine Gabrielle Kancachian – Viola Marco Testori – Violoncello Kit Scotney – Violone Axel Wolf – Laute Olga Watts – Cembalo