2021/2022: Konzert 5

Sonntag, 6. Februar 2022 WDR-Funkhaus 17 Uhr

Joseph Aloys Schmittbaur

Lindor und Ismene Benjamin Bruns | Suzanne Jerosme | Anna Christin Sayn | Camilo Delgado Díaz L’arte del mondo Werner Ehrhardt Gefördert im Programm NeuStartKultur durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. L’arte del mondo Werner Ehrhardt Sendung auf WDR 3 am 20.03.2022 ab 20.04 Uhr

Die Liste der von l’arte del mondo und Werner Ehrhardt wiederentdeckten und dem Vergessen entrissenen Werke ist ebenso lang wie be- eindruckend. Jetzt fügen sie ihr eine Kölner Rarität an: Lindor und Ismene von Joseph Aloys Schmittbaur. 1776 komponiert und kurz darauf in der Domstadt aufgeführt, kann sie Ignaz Holzbauers legendärem Mannheimer Günther von Schwarzburg als wegweisendes deutschsprachiges Singspiel den Rang streitig machen – und das nicht nur aus chronologischer Sicht, sondern auch dank ihrer musikalischen Qualität.

Programmfolge

Joseph Aloys Schmittbaur (1718–1809) Lindor und Ismene Operette in einem Aufzug (Köln 1777) Text von Julius von Soden

Zaubermärchen und Pastorale

Er zählt weder zu den Vertretern der Wiener Klassik, noch assoziiert man ihn unmittelbar mit der Generation der Bach-Söhne, allenfalls fällt sein Name am Rande, wenn von der Mannheimer Schule die Rede ist: Joseph Aloys Schmittbaur, ein vierzehn Jahre älterer Zeitgenosse von Joseph Haydn (beide starben 1809), entzieht sich den griffigsten musikhistorischen Kategorisierungen. Und doch gehört er unzweifelhaft zu jener bedeutenden Gruppe von Musikern aus dem deutschsprachigen Raum, die im Laufe des 18. Jahrhunderts den musikalischen Weg vom Barock zur Klassik ebneten – und teilweise schon in die Romantik vorausblickten.

Als umfassendes Genie preist ihn der Theologe und Musiker Carl Ludwig Junker in einer 1776 veröffentlichten biographischen Skizze – er hatte Schmittbaur am Karlsruher Hof kennengelernt: Denn Genie bestehet ja im Reichthum der Gedanken, glänzender Phantasie, unerschöpflicher Melodie, himmlischer Harmonie, tiefem Verständnis aller Instrumente, und vorzüglich aller Zauberkraft der Menschenstimme.

Werner Ehrhardt und L’arte del mondo hat die Euphorie Junkers neugierig gemacht auf die Musik Schmittbaurs. Im vergangenen Jahr haben sie sich seinem sinfonischen Schaffen gewidmet, und nun präsentieren sie eines seiner musikdramatischen Werke, an dem sich das kompositorische Genie tatsächlich umfassend erweist.

Schmittbaur stammte höchstwahrscheinlich aus Franken. Geboren 1718, durchlief er in Würzburg eine Orgelbaulehre bei Johann Philipp Seuffert, während für seine musikalische Ausbildung wohl der Hofkapellmeister Johann Georg Franz Waßmuth sorgte, vielleicht während eines Studienaufenthaltes in Italien auch noch Niccolò Jommelli. Als der neapolitanische Meister 1753 Hofkapellmeister in Stuttgart wurde, stand Schmittbaur schon in den Diensten des Hauses Baden in Rastatt, wo er bis zum Kapellmeister aufstieg. 1771 ging die Markgrafschaft Baden-Baden in der Linie Baden-Durlach auf, und Schmittbaur musste sich zugunsten des Karlsruher Kapellmeisters Giacinto Schiatti erst einmal wieder mit einem Konzertmeisteramt bescheiden. Damit unzufrieden, kam er 1775 nach Köln – als maître de la chapelle dans la grand metropolitain de Cologne, wie er selbstbewusst in einem Brief an Carl Friedrich von Baden formuliert. Der Markgraf hatte ihm aber die Berufung ins Karlsruher Hofkapellmeisteramt zugesichert, und er hielt Wort, als Schiatti Ende 1776 starb. Bis ins hohe Alter wirkte Schmittbaur von Mitte 1777 an wieder in Baden. Erst 1804 trat er mit fast 86 Jahren in den Ruhestand. Als er am 19. Oktober 1809 starb, hinterließ er ein umfangreiches Œuvre an geistlichen und weltlichen Vokalwerken, Sinfonien und Kammermusik.

Zwei herausragende Proben von Schmittbaurs Kirchenmusik datieren aus seiner Kölner Zeit: Es sind die prachtvollen Messvertonungen zu den Dreikönigsfesten 1776 und 1777. Seit Oktober 1775 leitete er außerdem die Winterkonzerte der seit 1743 bestehenden Musicalischen Academie. Wohl noch 1776 komponierte Schmittbaur hier auch sein deutsches Singspiel Lindor und Ismene, dessen Uraufführung mit dem Ende seiner Zeit als Domkapellmeiter zusammenfiel – das belegt der zu diesem Anlass erschienene Kölner Textdruck.

Dem musikdramatischen Fach hatte sich Schmittbaur schon in seinen frühen Jahren in Rastatt gewidmet, wo er in den erhaltenen Theater-Programmen zunächst als Sänger und Schauspieler erscheint. Noch in der italienischsprachigen Tradition der Opera seria mit ihrer schematischen Abfolge von Rezitativen und Da-capo-Arien stehen seine ersten, heute verschollenen Kompositionen in diesem Genre. Als werk von besonderer und neüesten art beschreibt er dann selbst seine Karlsruher Serenata L’Endimione von 1774 auf einen Text von Pietro Metastasio: Durch das ganze werk sind alle Recitativi mit Instrumenten bekleidet, welches wegen seiner Mannigfaltigkeit deren Thematen viel schwehrer als fast alle gattungen Musique sind …

Eine detaillierte instrumentale Ausgestaltung der Rezitative prägt auch mehr als zwei Jahre später Lindor und Ismene. Schmittbaur bezeichnet das Werk als es eine Operette, was sich als Synonym versteht für die hochaktuelle Gattung des Singspiels, einer deutschsprachigen Variante zu den Publikumslieblingen Opera buffa in Italien und Opéra-comique in Frankreich. In Lindor und Ismene wechseln sich gesungene und gesprochene Szenen ab. Das Textbuch hatte 1771 der junge Ansbacher Literat Julius von Soden verfasst. Im Vorwort nennt er es einen Zwitter der Romantischen und Schäfer-Oper. Der Schmittbaur-Experte Rüdiger Thomsen-Fürst verortet die Geschichte zwischen Zaubermärchen und Pastorale. Er hat die Handlung in einer Studie zur Aufführungs- und Überlieferungsgeschichte des Werkes 1999 so zusammengefasst:

Vor einem Jahr tötete Lindor versehentlich seine Geliebte Ismene bei der Jagd. Seitdem trauert der Verzweifelte am Grabmal Ismenes und denkt an Selbstmord. So findet ihn der Freund Bellamis, Sohn der Zauberin Armide. Dieser war ein Jahr zuvor von seiner Mutter aus Arkadien verbannt worden. Er eröffnet Lindor, dass er an Ismenes Tod unschuldig sei. Vielmehr habe seine eigene Mutter, die Zauberin, den Pfeil aus Eifersucht auf die Rivalin gelenkt. Während Bellamis seine Geliebte Naide wiedersieht, gesteht und bereut Armide vor Lindor ihre Tat; ihre Macht reiche jedoch nicht aus, das Geschehene rückgängig zu machen. Lindors Tod sei beider Leben, orakelt sie. Lindor tötet sich am Grab der Geliebten, worauf das Monument sich öffnet, Ismene heraustritt und auch Lindor das Leben wiedergegeben wird. Mit den Schäfern und Schäferinnen Arkadiens feiern beide Paare ihre glückliche Wiedervereinigung.

Schmittbaur besetzt seine Vertonung mit vier Solostimmen, Chor und einer Sprechrolle; das Orchester besteht aus Streichern und je zwei Hörnern, Flöten, Oboen und Fagotten. Im starken Kontrast zum quirligen Orchestervorspiel eröffnen seufzende Moll-Akkorde den schmerzvollen Monolog Lindors (Nr. 1) vor dem Grab Ismenes. Nur die Erinnerung an ihr vergnügtes Wesen und ihre Schönheit rechtfertigt gelöstere Töne; doch ein kurzes instrumentenbegleitetes Rezitativ führt zurück in die verzagte Stimmung des Beginns.

Mit einer strahlenden Dur-Arie (Nr. 2) tritt Bellamis auf, voller Vorfreude auf ein Wiedersehen mit Naide. In dynamisch detailreich abgestuften Instrumentalfarben beleuchtet das Orchester in der folgenden Arie (Nr. 3) jene schreckenvolle Todesnacht, die Lindor gegenüber Bellamis als Stunde der Erlösung und Wiedervereinigung mit Ismene deutet.

Die liedhafte Auftrittsarie der Naide (Nr. 4) ist Sinnbild ihrer unbeschwerten, fröhlichen Anmut – was Schmittbaur nicht davon abhält, die Gesangspartie mit virtuosen Effekten zu spicken. In den Orchesterritornellen der nächsten Arie (Nr. 5) lässt er Fagott und Viola solistisch hervortreten, wenn Bellamis anspielungsreich von einem Hirten singt, der im Schoß seiner Geliebten schlummert. Musikalisch vereint präsentiert sich das Liebespaar im anschließenden Duett (Nr. 6) – in dem aber schließlich Zweifel an der gegenseitigen Treue die Worte bestimmen. Bellamis erklärt sich in einer Romanze (Nr. 7), einem eher schlichten Strophenlied, das Naide zweimal kurz mit gesprochenen Kommentaren unterbricht; sie selbst schildert in einem orchesterbegleiteten Rezitativ (Nr. 8) mit wenigen Arioso-Takten ihre Begegnung mit dem Hirten Philiris. Bald liedhaft, bald im dramatischen Rezitativ (Nr. 9) erzählt sie dann von einem Traum, in dem ihr die tote Ismene erschienen ist.

In der folgenden Szene (Nr. 10) beschwört in erhabenem Ton Lindor das Andenken Ismenes gemeinsam mit Hirtinnen und Hirten. Ihr Chor mündet in die fulminante orchestrale Schilderung eines Gewitters: Es ist der Auftritt Armides, einer reinen Sprechrolle. Entschlossenheit bestimmt die bündige Moll-Arie Lindors (Nr. 11), der sich töten will, um Ismene das Leben wiederzugeben; in erdenferner Abgeklärtheit klingt hingegen gleich darauf sein Lebewohl an die Welt (Nr. 12).

Einige furiose Instrumentaltakte leiten ein weiteres Rezitativ (Nr. 13) ein und untermalen dabei das Verschwinden des Grabes: Ismene erscheint. Hier und da durchzuckt noch das Erschrecken über das Erlebte ihren freudigen Ariengesang (Nr. 14). Glücklich im Leben wiedervereint, verbinden sich die Stimmen Lindors und Ismenes zum Liebesduett (Nr. 15). Das beschwingte Rondo-Finale (Nr. 16) bietet jedem der vier Charaktere und im Duett noch einmal Lindor und Ismene reizvolle Auftritte in ariosen Couplets, die sich mit dem Refrain der Hirtinnen und Hirten abwechseln.

Wie der erhaltene Kölner Textdruck beweist, erlebte Schmittbaurs abwechslungsreiches und mitreißendes Werk seine Uraufführung durch die Dobler-Graubener’sche Schauspieltruppe im hölzernen Theaterhaus von 1768 auf dem Neumarkt. Das Ensemble trat dort mit wechselndem Programm seit dem 11. Mai 1777 auf, musste den Platz aber schon nach wenigen Wochen aus finanziellen Gründen einer konkurrierenden Gesellschaft überlassen. Die Titelrollen in Schmittbaurs Singspiel sangen Joseph Smitt und seine Gattin; er ist ein rascher Junge und hat viel Anlage, urteilt damals der Rezensent im Theater-Journal für Deutschland: In Operetten ist seine Stimme artig, seine Aktionen sind warm, man sieht ihn gern. Madam Smid singt mit vieler Anmuth, eine biegsame, reine Stimme. Den Bellamis übernahm Franz Joseph Demmer, der eine schöne Stimme zu singen hat. Er stammte aus Köln und war in der Domkapelle ausgebildet worden. In der Sopranpartie der Naide war Ernestine Dobler zu erleben, die Tochter des Impresarios. Sie war erst 13 Jahre alt, hatte aber schon im Jahr zuvor ihr Bühnendebüt gegeben. Mit ihren sängerischen Aufgaben war sie allerdings noch überfordert, legt das Urteil des Rezensenten nahe: Sie hat eine falsche Stimme, ist monoton im Gesang als im Deklamiren, keine Wärme, kein Gefühl, keine Empfindung. Sonst ein niedliches nußbraunes Mädchen; ’s ist schade. Ihr stand aber noch eine respektable Karriere als Darmstädter Hofschauspielerin bevor.

Die zur Zeit erreichbaren Quellen sagen nichts über das Engagement, das Schmittbaur selbst für die Kölner Uraufführung seines Werkes zeigte. Hätte er aber als musikalischer Leiter, etwa vor dem Orchester der erwähnten Musicalischen Academie, zur Verfügung gestanden, wäre das im Textdruck vermutlich erwähnt worden. Mutmaßen lässt sich auch nur, welchen Eindruck Lindor und Ismene damals auf das Publikum machte. Immerhin kam es zwei Jahre später, am 6. Juli 1779, zu einer weiteren Kölner Aufführung, jetzt durch die Schauspielergesellschaft von Johann Christoph Friedrich Hülßner im feierlichen Rahmen des Bürgermeister-Wechsels. Pikanterweise urde Lindor und Ismene dabei noch einmal als Novität angekündigt: Eine ganz neue, sehr schön hier noch nie gesehene Operette in Zwo Handlungen, die schöne Musick dazu ist von dem ehemals hier, itzt zu Carlsruhe würdig angestellten Capellmeister Herrn Schmittbauer.

Die heutige Produktion, 245 Jahre nach der Uraufführung, stellt möglicherweise erst die zweite Kölner Wiederaufnahme dar. Mit Sicherheit ist es die Welt-Erstaufführung in unseren Tagen. Sie legt ihren Fokus auf die zeitlos gültige Musik Schmittbaurs. Dabei soll nicht übersehen werden, dass die Textvorlage ihre dramaturgischen Schwächen hat. Und zur Herausforderung beim Hören könnte vor dem Hintergrund der aktuellen #MeToo-Debatte das von Bellamis und Naide augenzwinkernd thematisierte amouröse Gebaren einiger Hirten in der vermeintlich heilen Welt Arkadiens werden. Aus rein dramaturgischen Erwägungen werden jedenfalls die gesprochenen Werkteile jetzt in einer gestrafften Fassung präsentiert.

behe

Mit herzlichem Dank für wertvolle Hinweise an Dr. Rüdiger Thomsen-Fürst (Heidelberg/Mannheim). Gemeinsam mit Sanja Aleksic hat er 2020 auf Basis eines Partiturmanuskripts in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg die moderne Notenedition von Lindor und Ismene vorgelegt.

Mitwirkende

Benjamin Bruns (Tenor) – Lindor
Suzanne Jerosme (Sopran) – Ismene
Anna Christin Sayn (Sopran) – Naide
Camilo Delgado Díaz (Tenor) – Bellamis

im Chor der Hirtinnen und Hirten: Andra Prins (Alt), Achim Hoffmann (Bass)

L’arte del mondo
Zsuzsanna Czentnár, Antonio de Sarlo, Berit Brüntjen-Magenheim, Valentina Resnyanska – Violine 1 Marija Ivanova, Go Yamamoto, Martin Ehrhardt, Katja Grütner – Violine 2 Antje Sabinski, Priscila Rodriguez Cabaleiro – Viola Linda Mantcheva, Felix Zimmermann – Violoncello Jörg Lüring – Kontrabass Mariantonia Riezu Gonzales, Nicolás Roudier – Horn Gudrun Knop, Stefanie Kessler – Flöte Georg Siebert, Benjamin Völkel – Oboe Rainer Johannsen, Victor Gutsu – Fagott
Ltg. Werner Ehrhardt