2022/2023: Konzert 7
Beethovens Genius
Streichquartette von Ferdinand Ries, Fanny Hensel und Ludwig van Beethoven Schuppanzigh-Quartett Sendung auf WDR 3 am 15. Juni 2023 ab 20:04 UhrWie in manch anderer Gattung, so wurde Ludwig van Beethoven für die folgenden Generationen auch als Streichquartettkomponist zu einem Vorbild, an dem man nicht vorbeikam. Das Schuppanzigh-Quartett zeigt das in einer bestechenden Werkauswahl, wenn es Beethovens B-Dur-Opus 18,6 einerseits ein A-Dur-Quartett seines Schülers Ferdinand Ries an die Seite stellt, andererseits das Es-Dur-Quartett einer der größten Komponistinnen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Fanny Hensel.
Programmfolge
Beethoven immer im Blick
Hab Dank für die ordentliche Critik meines Quartetts. Ich habe nachgedacht,
wie ich eigentlich gar nicht excentrische oder hypersentimentale Person zu der weichlichen
Schreibart komme? Ich glaube, es kommt daher, daß wir gerade mit Beethovens letzter
Zeit jung waren, u. dessen Art u. Weise, wie billig, sehr in uns aufgenommen haben, u.
die ist doch gar zu rührend u. eindringlich.
Die Komponistin im Dialog mit ihrem Bruder, dem Komponisten. Die Kritik von Felix Mendelssohn
Bartholdy am Streichquartett seiner Schwester Fanny Hensel hat sich nicht erhalten.
Ihre Antwort vom 17. Februar 1835 lässt aber keinen Zweifel, dass er ebenso offen zu
ihr war, wie sie es nun in der Beurteilung seiner Choralkantaten ist. Du mußt
nur nicht glauben, daß ich Dir eine retour Kutsche schicke, das ist’s gewiß und wahrhaftig
nicht. Aber das fängt in fis moll an, u. schließt in a moll, oder vielmehr in C dur,
durch wenige Modulationen hindurch, u. doch glaube ich hätten die Worte da die allergrößte
Standhaftigkeit u. ein Beharren im Choral erfordert.
Jenes Streichquartett, das Fanny Hensel von August bis Oktober 1834 komponierte, blieb ihr einziges. Es negiert im Grunde genommen jene klassische Form, die Ludwig van Beethoven zu einem Grad an musikalischer Komplexität in der thematischen Arbeit geführt hatte, den nachfolgende Generationen als künstlerische Bürde empfanden. Fanny Hensel, gut drei Jahre älter als ihr Bruder und wie dieser in Berlin von Carl Friedrich Zelter musikalisch ausgebildet, geht nun eigene Wege. Ihr vermeintliches Es-Dur-Quartett bewegt sich in seinem melancholisch-herben ersten Satz vor allem in c-Moll, das folgende spielfreudige Allegretto mit den virtuosen Fugato-Episoden changiert zwischen c-Moll und C-Dur, die anschließende modulationsreiche Romanze berührt viele Tonarten auf ihrem Weg von c- Moll nach g-Moll, um dann in dessen lichter Dur-Variante zu schließen. Erst das scherzohafte Finale gründet im zuversichtlichen Es-Dur.
In allen Sätzen fasziniert die Souveränität, mit der die Komponistin die Instrumente
individuell hervorhebt. Ihr Werk mag vor geladenem Publikum in den Sonntagsmusiken
ihres Berliner Elternhauses erklungen sein, die sie als Ehefrau des Malers Wilhelm Hensel
seit 1831 künstlerisch leitete.
Fanny Hensel und Felix Mendelssohn waren mit Beethovens letzter Zeit jung
. Im
Gegensatz zu ihnen hatte Ferdinand Ries schon als Kind den jungen Bonner Hoforganisten
Beethoven erlebt, der im Streichquartett von Vater Franz Anton Ries, dem kurkölnischen
Musikdirektor, Bratsche spielte. Mit 16 Jahren wurde Ries in Wien Beethovens Klavierschüler
und Sekretär, den Kompositionsunterricht erteilte Beethovens eigener Lehrer Johann Georg
Albrechtsberger. Nach einer mehrjährigen Europareise, die Ries bis nach Russland führte,
ließ er sich 1813 für elf erfolgreiche Jahre als Klaviervirtuose und Komponist in London
nieder. Schließlich ging er über Godesberg nach Frankfurt. Ries war ein produktiver
Komponist, legte im Banne Beethovens an die eigenen Werke aber so hohe Maßstäbe an,
dass er nur elf seiner 26 Quartette drucken ließ. Zu den Kompositionen, die er der Veröffentlichung
für würdig befand, zählt das Streichquartett A-Dur von 1817. Mit zwei Schwesterwerken
der Londoner Jahre gab er es 1824 als sein Opus 126 heraus, mit Widmung an den dänischen
Bankier und Komponisten Georg Gerson, den er in London kennengelernt hatte.
Ein kantabel in der ersten Violine anhebendes Thema, das später vom Violoncello übernommen wird, bestimmt den Eröffnungssatz. Ries beleuchtet es in Teilen mit immer wieder wechselnden Begleitmotiven und Gegenstimmen-Kombinationen ständig neu. Der zweite Satz variiert ein eingängiges, aber auch herbes liedhaftes Thema. Beide Violinen stellen es eindringlich im Oktavabstand vor, dabei mischen sich kirchentonale Wendungen in das d-Moll. Für eine Variation wechselt Ries relativ früh im Satzverlauf nach D-Dur. Das anschließende Menuett bietet erstaunliche Melodieführungen und entpuppt sich so der Überschrift zum Trotz als Scherzo. Das muntere Finalrondo entfernt sich zwischenzeitlich von A-Dur in weit entlegene b-Tonarten.
Über die Rezeption durch Fanny Hensel und Ferdinand Ries nähert sich das Schuppanzigh- Quartett in seinem Programm dem großen Klassiker des Streichquartetts selbst. Dabei geht der Blick zurück zu den Anfängen seines Streichquartett-Schaffens. 1792 nach Wien gekommen, positionierte sich Ludwig van Beethoven dort in diesem Genre 1801 mit den sechs Werken seines Opus 18, die dem Fürsten Franz Joseph Maximilian von Lobkowitz gewidmet sind, einem seiner frühen Wiener Förderer. An den Werken gearbeitet hatte Beethoven in den vorangegangen drei Jahren. Musikantisch-heiter beginnt das Quartett Nr. 6 in B-Dur. Das markante Doppelschlag-Motiv in der Eröffnung blitzt im weiteren Verlauf des Satzes immer wieder auf, der pathetische erste Auftritt des gravitätischen Seitenthemas bleibt hingegen Episode. Ein liedhaftes Thema bestimmt den folgenden Satz, ein lyrisch-empfindsames Adagio in Es-Dur. Im starken Kontrast dazu steht das spritzige Scherzo, mit dem Beethoven zur Grundtonart zurückkehrt. Es gelingt ihm hier, den vorgegebenen 3/4-Takt durch Synkopierungen effektvoll zu verschleiern. Mit dem Finalsatz tritt das Quartett in eine völlig neue Sphäre, die der Komponist durch die Überschrift La Malinconia programmatisch auflädt. Zögernde Akkorde, die durch triolische Vorschläge an Spannung gewinnen, prägen den Satz – bis sich diese Spannung in einem heiter-beschwingten Allegretto plötzlich löst. Zweimal noch unterbrechen melancholische Reminiszenzen den Fluss des tänzerisch-ausgelassenen Spiels, das dann aber doch mit ekstatischen Tongirlanden der ersten Violine die Schlusspointe im Prestissimo setzt.