2023/2024: Konzert 1

Sonntag, 3. September 2023 WDR-Funkhaus 17 Uhr

Acis & Galatea

Georg Friedrich Händel: Acis and Galatea. Masque in einem Akt (Cannons 1718) Berit Norbakken – Hugo Hymas – Andreas Wolf Capella Augustina Ltg. Andreas Spering Andreas Spering

Pause nach dem Duett „Happy we“ In der Pause sind Sie eingeladen zu einem kleinen Empfang „25 Jahre Forum Alte Musik Köln“ mit Buchpräsentation „Alte Musik heute“. Die Aufzeichnung des Konzertes sendet WDR 3 am Sonntag, dem 17. September 2023, ab 20:04 Uhr.

Englische Alternative

„Es wird da jetzt eine kleine Oper gegeben, deren Musik aber nicht veröffentlicht wird. Die Worte stammen von Pope und Gay, die Musik soll Händel komponieren. Sie ist so gut wie fertig, und mir wurden von Doktor Arbuthnot, der auch zu diesem Komponisten-Club gehört, einige Gesänge daraus versprochen.“

Wie hier Sir David Dalrymple, Mitglied im britischen House of Commons, gaben auch weitere Angehörige der Londoner Upper Class im Frühjahr 1718 vorerst nur unter der Hand weiter, was sich als neue musikalische Sensation etwa neun Meilen vor den Toren der Stadt bei James Brydges, Earl of Carnavon, auf dessen neuerbautem Landsitz Cannons anbahnte. Wer in den Monaten zuvor gemeinsam mit dem Earl den sonntäglichen Gottesdienst in der benachbarten Dorfkirche von Little Stanmore besucht hatte, war dort schon Ohrenzeuge neuartiger Anthems geworden, kantatenähnlicher Psalmtextvertonungen für Vokalstimmen und Instrumente, in denen der moderne Stil italienischer Solomotetten dominiert. Geschrieben hatte sie jener Komponist, der etwa fünf Jahre zuvor aus Deutschland gekommen war und nun als „Artist in Residence“ des Earl eine Art Auszeit nahm vom nervenaufreibenden Leben eines komponierenden Londoner Opern-Impresarios: Georg Friedrich Händel.

Nun also eine Art Oper für den erfolgsverwöhnten Adeligen, der als Generalzahlmeister der britischen Armee im Spanischen Erbfolgekrieg zu großem Reichtum gekommen war, indem er auch in die eigene Tasche gewirtschaftet hatte. Es sollte für Cannons aber nicht eines jener in London hoch im Kurs stehenden italienischsprachigen Opera-seria-Werke werden, in denen sich eine verwickelte Handlung zwischen mehr als einem halben Dutzend Charakteren in einer schier unendlichen Abfolge von Rezitativen und Da-capo-Arien abspielte. Stattdessen: ein leicht fasslicher Einakter in englischer Sprache für vier Personen, in der Masque-Tradition des 17. Jahrhunderts. Einen geeigneten Stoff aus der griechischen Mythologie fanden die beiden versierten Literaten Alexander Pope und John Gay, zu denen sich offenbar auch noch der Dichter John Hughes gesellte, in den Metamorphosen des römischen Autors Ovid: Acis und Galatea. Und so erzählten sie nun in englischen Reimen die Geschichte von der Liebe zwischen der anmutigen Flussnymphe und dem jungen Hirten, die an der unbändigen Eifersucht des ungeschlachten Zyklopen Polyphem scheitert. Ihre Rezitative sind recht kurz gehalten, die Arien folgen aber schon der modischen Da-capo-Form; ein Chor kommentiert nach antiker (und englischer) Tradition das Geschehen.

Georg Friedrich Händel war damals mit seinen 33 Jahren längst ein erfahrener Mann des Musiktheaters. An seine frühe Zeit an der Hamburger Gänsemarkt-Oper hatte er einen ausgedehnten Studienaufenthalt in den Musikmetropolen Italiens angeschlossen und sich inzwischen in der Londoner Opernszene als Komponist und Impresario etabliert. Jetzt schöpfte er in seiner pastoralen Vertonung geschickt die Möglichkeiten des kleinen, aber feinen Ensembles in Cannons aus. Er lieferte der Handvoll Vokalkräfte prägnante Chorsätze und bald lyrische, bald heroische oder dramatische Arien. Das Instrumentalensemble - ohne Bratschisten, aber mit zwei Oboisten, die gelegentlich auch zu den Blockflöten griffen, einem Fagottisten und einer Generalbassgruppe aus Violoncello, Kontrabass und Cembalo - setzte er dazu ebenso effektiv wie effektvoll ein. Ihm als Cembalisten saß (und stand) in der Aufführung der aus Italien stammende Cellist, Komponist und Opernarrangeur Nicola Francesco Haym zur Seite, der schon seit 1716 im Cannons Concert mitwirkte.

Gut möglich, dass Händel das Thema der Oper selbst vorgeschlagen hatte, mit dem er in noch kleinerer Formation zehn Jahre zuvor schon einmal hatte glänzen können: Da erklang seine italienische Serenata Aci, Galatea e Polifemo zu einer Fürstenhochzeit in Neapel (im Forum Alte Musik Köln war sie 2012 zu erleben). Auch in Cannons sang nun eine Sopranstimme die Galatea und ein Bass den Polyphem. Die Rolle von Galateas Liebhaber Acis war aber nicht mehr einem Soprankastraten, sondern einem Tenor anvertraut: James Blackley, dem führenden Sänger des Cannons Concert. Hinzu kam der hohe Tenor Francis Rowe als Damon, dem Freund und Vertrauten des Acis; er machte dann noch Altsänger im Chor der Chapel Royal Karriere. Das Quartett ergänzte in den Chorsätzen als weiterer Tenor William Rogers. Einiges deutet darauf hin, dass die spätere Gattin des wie Händel aus Deutschland stammenden und bald ebenfalls für Brydges aktiven Komponisten Johann Christoph Pepusch in Cannons als Galatea sang: Margherita de L’Epine, über deren Herkunft aus Italien oder Frankreich man bis heute rätselt. Sie war eine der wichtigsten Sängerinnen Londons in den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts.

Leider verschweigen die Quellen auch die Identität des zweifellos herausragenden Bassisten, der in die schauspielerisch ebenso herausfordernde wie dankbare Rolle des Polyphem schlüpfte. Dessen Auftritt spart das Libretto für den Chorsatz etwa in der Mitte des Werks auf, den Händel in unheilschwangeren Vorhaltdissonanzen und dramatischen Akkordblöcken serviert. In kurzer Zeit ist die zauberhafte Idylle dahin, die der erste Teil des Werks vor den Zuhörenden mit seiner munteren Sinfonia, einem tänzerischen Hirtenchor und der dichten Folge lyrischer, melodisch-eingängiger Arien geführt hat. Polyphem, der zunächst noch seine Verliebtheit in einer polternden, von einer Blockflöte karikierend umspielten Arie besungen hat, erhält von Galatea eine Abfuhr. In eifersüchtiger Wut erschlägt er schließlich den bedauernswerten Acis. Ein gravitätischer Trauergesang fordert alle Musen und Hirten auf, dessen Tod zu beklagen. Händel griff hier auf einen Chorsatz zurück, den er schon 1716 bei der Vertonung eines Passions-Librettos aus Hamburg entworfen hatte. Diese so genannte Brockes-Passion sollte dort aber erst in der Karwoche 1719 erklingen. Das englischsprachige chorische Remake des Lamento-Terzetts „O Donnerwort! O schrecklich Schreien“ erlebte hingegen nun schon ein Jahr vor dem Original seine Uraufführung: „Mourn, all ye muses! Weep, all ye swains!“ Immerhin hat Galatea die Macht, die Blutströme ihren Geliebten in den Fluss Acis zu verwandeln. Galateas letzte Arie gilt seinem tröstenden Murmeln, und das klingt auch im gelösten Schlussschor der Hirten fort.

Ob das erlesene Publikum in Cannons erfasste, wie Händel hier die erstaunliche Bandbreite seiner genialen Musikdramatik in höchster Dichte und Konzentration darbot? Noch etwa ein Jahr lang blieb der Komponist nach der Aufführung von Acis and Galatea als Hauskomponist für James Brydges tätig. Als weiteres höchst bemerkenswertes Werk legte er dabei die Dramatisierung der biblischen Erzählung Esther vor, sein erstes englischsprachiges Oratorium. Dann übernahm er als künstlerischer Leiter eine neue Londoner Opernunternehmung, die im Frühjahr 1719 Gestalt annahm: die Royal Academy of Music, von König Georg I. persönlich gefördert. Auch der Earl of Carnavon zählte zu den Musikenthusiasten, die sich hier finanziell engagierten. Die leitende Rolle in dessen Musikensemble übernahm jetzt Johann Christoph Pepusch. Gemeinsam mit John Gay als Librettisten sollte er ab 1728 Händels musikdramatischen Werken mit der satirischen Beggar‘s Opera gehörig Konkurrenz machen.

Mit einem englisch-italienischen Pasticcio aus Acis and Galatea und der neapolitanischen Serenata Aci, Galatea e Polifemo trug Händel 1732 selbst zur frühen Rezeptionsgeschichte seiner Masque auf der Londoner Opernbühne bei. Sieben Jahre später präsentierte er dort aber auch die englischsprachige Komposition von 1718 weitgehend in Originalgestalt. Im November 1788, sieben Jahrzehnte nach deren Uraufführung, war es niemand Geringerer als Wolfgang Amadeus Mozart, der Händels Acis and Galatea auf Initiative des Barons Gottfried van Swieten für eine Privataufführung in Wiener Adelskreisen einrichtete. Der von der älteren Musik begeisterte Musikmäzen hatte dazu selbst eine deutsche Textfassung erstellt. Die heutige Aufführung kehrt bewusst zur Originalfassung von 1718 zurück, um so Händels ersten Beitrag zum englischen Musikdrama in seinem exquisiten kammermusikalischen Charme erlebbar zu machen.

behe

Mitwirkende

Acis: Hugo Hymas (Tenor) Galatea: Berit Norbakken (Sopran) Polyphemus: Andreas Wolf (Bass) Damon: Joshua Ellicott (Tenor) in den Chören mit Jonas Boy (Tenor) Capella Augustina Daniel Rothert – Blockflöte 1 | Clara Blessing - Oboe 1, Blockflöte 2 Marie Reith - Oboe 2 | Theresa Koenig - Fagott Mónica Waisman, Jesús Merino Ruiz, Andria Chang, Lorena Padrón Ortiz – Violine 1 Gudrun Engelhardt, Christoph Mayer, Daphne Oltheten – Violine 2 Markus Möllenbeck, Felix Zimmermann – Violoncello | Miriam Shalinsky – Violone Andreas Gilger – Cembalo, Orgel | Christoph Sommer - Laute Leitung: Andreas Spering