2024/2025: Konzert 6

Sonntag, 16. März 2025 Trinitatiskirche 17 Uhr

Visionen

Die Mystik des 17. Jahrhunderts im Spiegel geistlicher Konzerte und Sonaten von Johann Pachelbel, Heinrich Ignaz Franz Biber, Rupert Ignaz Mayr und Isabella Leonarda Carly Power NeoBarock Carly Power NeoBarock" Sendung auf WDR 3 am 22. Mai 2025 ab 20:03 Uhr

Eine beachtliche Zahl hochvirtuoser barocker Vokalkonzerte deutet die zugrundeliegenden mystischen Texte im verfremdeten Saitenklang einer skordierten Violine aus. Gemeinsam mit der Sopranistin Carly Power stellt das Ensemble NeoBarock selten aufgeführte Beispiele dieses Genres von bekannten Komponisten vor, aber auch Neuentdeckungen wie das Werk des Violinvirtuosen Rupert Ignaz Mayr. Ganz ohne Text beschreibt die Nonne Isabella Leonarda in einer Sonate eine mystische Vision.

Programmfolge

Heinrich Ignaz Franz Biber (1644–1704) O dulcis Jesu Geistliches Konzert für Sopran, skordierte Violine und Basso continuo Johann Jacob Froberger (1616–1667) Partita in D für Cembalo (Fassung Paris 1660) Méditation faite sur ma mort future – Gigue – Courante – Sarabande Isabella Leonarda (1620–1704) Sonata XII in d für Violine und Basso continuo aus Sonate à 1. 2. 3. e 4. Istromenti, op. 16 (Bologna 1693) Rupert Ignaz Mayr (1646–1712) Laudate pueri Dominum Geistliches Konzert für Sopran, Violine und Basso continuo aus Sacri Concentus ex Sola Voce et Diversis Instrumentis, op. 3 (Regensburg 1681) Pause Georg Muffat (1653–1704) Sonata in D für Violine und Basso continuo (Prag 1677) Michelangelo Rossi (1602–1656) Toccata settima in d für Tasteninstrument aus Toccate e correnti d’intavolatura d’organo e cembalo (Rom 1657) Jan Pieterszoon Sweelinck (1562–1621) Variationen über „Mein junges Leben hat ein End“, SwWV 324 für Tasteninstrument Johann Pachelbel (1653–1706) Mein Fleisch ist die rechte Speise, PWV 1222 Geistliches Konzert für Sopran, skordierte Violine und Basso continuo

Vielfalt der Stimmungen

Die Idee der Monodie, der akkordisch begleiteten Einzelstimme mit ihrem individuellen Ausdruckspotenzial, wurde im 17. Jahrhundert zum wichtigsten Betätigungsfeld der musikalischen Avantgarde. Sängerinnen und Sänger bewegten in solistischen Madrigalen und Arien die Herzen der Zuhörenden. Und die Instrumentalmusik fühlte sich herausgefordert, der Vokalkunst nachzueifern in jenem Stylus phantasticus, der mit seinem bunten Wechselspiel aus geschwinden Passagen, süßen Harmonien und spannungsreichen Akkorden überraschte. Der experimentierfreudige Geiger (und Sänger) Biagio Marini war 1626 der Erste, der in einer Notenpublikation auch die Skordatur der Violine verlangte: das Umstimmen einzelner Saiten, um mit Doppel- und sogar Tripelgriffen ungewöhnliche Akkordverbindungen und besondere Klangeffekte erzielen zu können. Das machte Schule, nicht zuletzt nördlich der Alpen, wo man die Ideen aus Italien mit Freude aufgriff und weiterentwickelte.

Zum berühmtesten Meister der Skordatur wurde der Böhme Heinrich Ignaz Franz Biber, der seit 1670 in den Diensten der Salzburger Fürsterzbischöfe stand. Heute ist er vor allem für seine Rosenkranz-Sonaten bekannt, die in immer neuen Violinstimmungen visionäre musikalische Bilder zu Begebenheiten aus der biblischen Heilsgeschichte entwerfen. Ebenfalls mit skordierter Violine (in der Stimmung h – fis’ – h’ – e’’ anstelle von g – d’ – a’ – e’’ ) meditiert das geistliche Konzert O dulcis Jesu im Bann glutvoller Jesus-Minne über die Passion Christi, hier aber im eindringlichen Dialog mit einer Vokalstimme. Da wirken die Violinpassagen wie eine Seelenspiegelung der im Gesang formulierten Gedanken, mitunter illustrieren sie den Text aber auch gestisch – am deutlichsten wohl die schwirrenden „Liebespfeile“. Das letzte Wort ist dann sogar der instrumentalen Oberstimme überlassen – ein Sinnbild sprachloser Erfüllung jener zuvor besungenen Sehnsucht nach der Vereinigung mit dem Gekreuzigten.

Die Überlieferung dieser Komposition verdankt sich allein dem Kantor an der sächsischen Fürstenschule Grimma, Samuel Jacobi. Die Titelseite seines Manuskripts erwähnt eine Aufführung am 25. März 1706 zum Fest Mariae Verkündigung, das in dem Jahr auf den Donnerstag vor Palmsonntag fiel. Ferner erfahren wir, dass Jacobis damals 24-jähriger Sohn Samuel Franz das Violinsolo spielte und der Sängerknabe Johann Friedrich Winckler die Sopranpartie übernahm. Den Namen des Komponisten hat der Kantor allerdings nicht vermerkt; stilistische Vergleiche legen die Autorschaft Bibers nahe, dessen Werke auch in Mitteldeutschland weit verbreitet waren.

In der Tradition des römischen Tastengenies Girolamo Frescobaldi gründete die Kunst des Johann Jacob Froberger. Der konnte als reisefreudiger kaiserlicher Organist (und Geheimdiplomat) seinen exquisiten Cembalostil sogar noch im fruchtbaren künstlerischen Austausch mit den Instrumentalvirtuosen aus dem Umfeld des französischen Hofes verfeinern. Seine eleganten Tastensuiten aus Folgen stilisierter Tanzsätze bereicherte Froberger gerne um deskriptive Charakterstücke. Einer seiner Partiten stellt er statt der üblichen Allemande eine melancholische Fantasia voran, die er als „Meditation über meinen dereinst bevorstehenden Tod“ bezeichnet und in Paris auf den 1. Mai 1660 datiert hat. Sieben Lebensjahre waren dem 44-Jährigen da noch vergönnt. Komponiert hat Froberger diese Méditation faite sur ma mort future allerdings deutlich früher. So überließ er das Werk dem kursächsischen Hoforganisten Matthias Weckmann, mit dem er seit einem Dresdner Tasten-Wettspiel befreundet war, schon Anfang der 1650er Jahre zur Abschrift.

Dem Mailänder Erzbischof Federico Caccia hat Isabella Leonarda, die Oberin des Ursulinen-Klosters im norditalienischen Novara, die Sonaten op.16 gewidmet; es ist ihre einzige Instrumentalveröffentlichung neben einem stattlichen Œuvre an Messen, Motetten und Vokalkonzerten. Vor der ersten Notenseite findet sich noch eine zweite, an die Gottesmutter Maria gerichtete Widmungsadresse, die auch diese Werke als geistliche Musik ausweist: „Sie gehören wahrhaftig nicht zu den Harmonien, die man Euch im Himmel in vollen Chören singt; aber Ihr dürft sie nicht zurückweisen, da ich doch (dank Eurer Hilfe) das Konzert meiner zu Euch seufzenden Zuneigung und meines Herzens, das ganz Euch gehört, von meinen Kunstfehlern bereinigen werde.“ Nach elf Triosonaten für zwei Violinen und Basso continuo schließt der Band mit einer vielgliedrigen Komposition für nur eine Violine. Sie entwirft im Stylus phantasticus kontrastreich wechselnde Stimmungsbilder, die sich auch ohne Worte zu einer ergreifenden mystischen Vision fügen.

Mit großem Gespür für innige Melodiebildungen hatte ein gutes Jahrzehnt zuvor Rupert Ignaz Mayr den Psalm Laudate Dominum vertont. Über der Basis der Continuostimme führt er die Violine und den Sopran als komplementäre Elemente des einen göttlichen Lobpreises zusammen, mit eindringlich deklamierten Rezitativ-Versen zwischen den ariosen Trioabschnitten. Die Komposition bildet einen jener zwölf Sacri Concentus, mit denen sich der aus dem Innviertel stammende Violinist 1681 in den Diensten des Fürstbischofs von Eichstätt vorstellte. Vier Jahre später sollte er in die Münchner Hofkapelle des bayerischen Kurfürsten aufsteigen und schließlich noch Hofkapellmeister beim Fürstbischof von Freising werden.

Als Georg Muffat 1678 in Salzburg eintraf, um dort die Stelle des höfischen Kammerorganisten anzutreten, hätte er sich als Experte für französische Ensemblemusik präsentieren können – schon als Jugendlicher hatte er sie in Paris im Umfeld von Jean-Baptiste Lully erlebt, dem Kapellmeister des Sonnenkönigs. Muffat brachte nach Salzburg aber wohl auch jene extravagante Violinsonate mit, die er laut handschriftlichem Vermerk im Juli des Vorjahres in Prag komponiert hatte. Offen bleibt, ob nun der Hofvirtuose Heinrich Ignaz Franz Biber diesen ariosen Instrumentalmonolog zur Cembalobegleitung Muffats interpretierte oder der Komponist selbst ein so fähiger Geiger war.

Michelangelo Rossi aus Genua jedenfalls glänzte mit seiner Doppelbegabung als Tasten- und Violinvirtuose. Zum Organisten ausgebildet, trat er Anfang der 1620er Jahre in Rom in die Dienste des Kardinals Maurizio von Savoyen, dessen Besoldungslisten ihn als Michelangelo del Violino kennen. Vielleicht schwingt ja auch im feurigen Passagenwerk und den kühnen Harmoniefortschreitungen seiner Toccata settima etwas von Rossis Violinstil mit.

Seit der calvinistischen Reformation 1578 durften in Amsterdams Kirchen ausschließlich einstimmige Psalmen gesungen werden. Jan Pieterszoon Sweelinck als Organist an der Oude Kerk verblieb seitdem nur das Orgelspiel vor und nach den Gottesdiensten und das geistliche Musizieren in häuslichen Zirkeln. Dort hatte vielleicht auch das Sterbelied Mein junges Leben hat ein End seinen Platz. Ein heute in Berlin archiviertes Manuskript aus dem 17. Jahrhundert liefert unter dem Autorenkürzel Johann Pieters Tastenvariationen zu diesem Lied in einer damals in den Niederlanden üblichen Sechs-Linien-Notation. Eines der vielen Orgeltalente aus Nord- und Mitteldeutschland, die bei Sweelinck in die Lehre gingen, mag sich das Werk beim Meister in Amsterdam kopiert haben. Die sechs Abschnitte der Komposition beleuchten die klar strukturierte Liedweise und ihre nicht weniger eingängige Harmonisierung in immer neuen melodischen und rhythmischen Facetten.

Mit reichlich liturgischen Aufgaben verbrachte hingegen Johann Pachelbel das letzte Lebensjahrzehnt als Organist an der Sebalduskirche seiner Geburtsstadt Nürnberg. Etwa 18 Jahre lang hatte er zuvor aber als Hof- oder Stadtorganist in Eisenach, Erfurt und Gotha amtiert. Wohl in dieser Zeit kam sein Vokalkonzert Mein Fleisch ist die rechte Speise in den Notenbestand der Dorfkirche von Großfahner in Thüringen. Die beeindruckende Solopartie für eine skordierte Violine (gestimmt c’ – g’ – c’’ – f’’ ) hat Pachelbel in diesem Stück möglicherweise für seinen Freund und Kollegen Johann Ambrosius Bach komponiert, den Eisenacher Kammermusikus und Vater von Johann Sebastian. Dem auf den Noten vermerkten Verwendungszweck als Musik zum Abendmahl entspricht die kontemplative Haltung der Komposition. Nach der rhapsodischen Einleitung durch die Violine trägt die Singstimme den gesamten Text, ein Christus-Wort aus dem Johannes-Evangelium, als Arioso zur Continuobegleitung vor. Die Violine tritt wieder hinzu, nimmt die Gesangsthematik auf und überhöht sie mit immer lebhafter werdenden Figurationen. Und wieder entstehen aus dem wechselnden Neben- und Miteinander der Worte und Klänge meditative Momente – auch noch über eine zeitliche Distanz von nahezu dreieinhalb Jahrhunderten hinweg.

behe

Mitwirkende

Carly Power – Sopran NeoBarock Heute musiziert NeoBarock in folgender Besetzung: Maren Ries – Violine Domen Marinčič – Viola da gamba Andreas Nachtsheim – Laute Stanislav Gres – Cembalo