Saison 2014/2015: Konzert 5

Sonntag, 25. Januar 2015 17 Uhr Trinitatiskirche

Neues von Haydn?

Werke von Joseph Haydn und Georg Reutter Nuovo Aspetto Cornelia Samuelis – Sopran Nuovo Aspetto Sendung auf WDR 3 am 25.2.2015

Joseph Haydn aus einem neuen Blickwinkel: das Ensemble Nuovo Aspetto macht seinem Namen alle Ehre! Da schlummerten Haydn'sche Divertimenti aus einer Bayreuther Lautensammlung bislang unbeachtet in einem Augsburger Archiv. Und die Sinfonie Nr. 61 hat ein Haydn-Zeitgenosse in Salzburg auf Salon-Dimensionen zugeschnitten – selbstverständlich ohne dabei die Kette von musikalischen Slapsticks zu sprengen, mit denen diese ursprüngliche Schauspielmusik zur Komödie Der Zerstreute auf die Handlung anspielt. Also muss auch das Kammerensemble im rasanten Kehraus, wie von Haydn einkomponiert, die Instrumente nachstimmen…

Programmfolge

Georg Reutter der Jüngere (1708 – 1772) »Dal nostro nuovo aspetto«. Arie aus der Festa teatrale Alessandro il Grande Sopran, Salterio, 2 Violinen und Basso continuo Pizzicato a-Moll. Fragment eines Violinkonzertes Violine solo, Streicher und Basso continuo Joseph Haydn (1732 – 1809) Cassationa G-Dur Hob. II:1 Allegro – Minuetto – Trio – Thema »La Fantasie« und Variationen Laute, Flöte, Violine, Viola, Violoncello Georg Reutter »Se a l'incauto«. Arie aus dem Componimento sacro Abele Sopran, Salterio und Basso continuo Joseph Haydn »The Inspired Bard« Hob. XXXIb:25 »The Despairing Bard« Hob. XXXIb:19 aus A Selection of Welsh Airs Sopran, Harfe, Violine, Violoncello Georg Reutter »Fra deserti«. Arie aus dem Oratorium La Divina Provvidenza in Ismael Sopran, Salterio, 2 Violinen und Basso continuo Joseph Haydn »Je ne vous disais point: j'aime« Einlagearie zum Schauspiel L'Inconséquente ou Le Fat dupé nach dem 2. Satz der Sinfonie D-Dur Hob. I:53 L'Imperiale Sopran und Harfe Adagio – Allegro molto – Adagio – Finale aus der Sinfonie C-Dur Hob I:60 Le Distrait Harfe, Violine, Viola und Bass Georg Reutter »Del pari infeconda«. Arie aus der Azione sacra per musica La Betulia liberata Sopran, Salterio, 2 Violinen und Basso continuo

Haydn neu gehört

»Junge Leute werden an meinem Beispiele sehen können, daß aus dem Nichts doch etwas werden kann«, konstatierte Joseph Haydn am Ende seines Lebens. Dass ihm, dem Sohn eines niederösterreichischen Wagenbauers, eine musikalische Karriere beschieden war, die damals ihresgleichen suchte, hatte Haydn nicht zum Geringsten Georg Reutter zu verdanken, dem kaiserlichen Hofkomponisten und Kapellmeister am Wiener Stephansdom. Er hatte Ende der 1730er Jahre den etwa siebenjährigen Joseph als Sängerknaben beim Rektor und Chorregenten Johann Mathias Franck in Hainburg erlebt und kurzentschlossen als Singschüler in die Hauptstadt beordert. Dort erhielt Haydn (wie dann mit fünf Jahren Abstand auch sein jüngerer Bruder Michael) über ein Jahrzehnt hinweg eine fundierte schulische Ausbildung inklusive hinreichend praktischer wie theoretischer Erfahrung in der Musik. Reutter selbst war als Sohn des gleichnamigen Hoforganisten ganz in der Musiktradition des Wiener Kaiserhofes groß geworden; später, ab 1769, sollte er sogar noch das Amt des Hofkapellmeisters erlangen. Trotz seiner prominenten Position in der Metropole Wien war sein Ruhm mehr oder weniger auf die Heimatregion beschränkt. Ob es sich um Kirchenstücke für den Dom handelte oder um musikdramatische Werke für den Hof: seine Kompositionen blieben Manuskript und auf einen kleinen Hörerkreis beschränkt.

Wenn das heutige Programm ungewohnte Blicke auf das Werk Haydns wirft, dann bewusst auch unter Bezugnahme auf Reutter, dessen Musiksprache den angehenden Musiker prägte. Im Stift Heiligenkreuz in Niederösterreich ist ein Großteil der Kompositionspartituren Reutters überliefert, dem sein Sohn Marian als Abt vorstand. Der melancholische Pizzicato-Satz in a-Moll für Violine und Streicher dürfte aus einem im übrigen verschollenen Violinkonzert stammen (das dann vermutlich in C-Dur stand). Die Arien Reutters repräsentieren sein wesentlich umfangreicheres vokales Schaffen und entstammen italienischsprachigen weltlichen und geistlichen Musiken im Opernton für den Kaiserhof. Gemeinsam ist ihnen die Instrumentierung mit Streichern und Salterio, einer Form des heute vornehmlich aus der Volksmusik der Alpenländer und des Balkans vertrauten Hackbretts oder Cymbals. Als dessen berühmtester Virtuose im 18. Jahrhundert gilt Pantaleon Hebenstreit, der mit der von ihm selbst entwickelten und nach ihm benannten großen Hackbrett-Form des Pantalons 1705 in Paris und 1708 am Wiener Kaiserhof gastierte, schließlich 1714 festes Mitglied der Dresdner Hofkapelle wurde. Die Lehre bei Hebenstreit in Dresden hat dann auf Geheiß Kaiser Karls VI. der junge Maximilian Hellmann durchlaufen, der Sohn eines Wiener Hofpaukisten. Nach der Rückkehr zum kaiserlichen Hofcymbalisten ernannt, war Hellmann in der Folgezeit der Adressat von Reutters Salterio-Partien. Die heute zu hörenden Arien entstammen einer Oper über Alexander den Großen, aufgeführt zum 47. Geburtstag Karls VI. im Oktober 1732 in Linz, sowie oratorischen Werken über den Tod Abels (1727), die göttliche Weissagung an Ismael (1732) und die gottesfürchtige Witwe Judith (1734); der kaiserliche Hofpoet Pietro Metastasio lieferte übrigens zu letzterem Werk das Libretto La Betulia liberata, das Reutter hier als Erster vertonte; viele sind ihm darin gefolgt, darunter auch der junge Wolfgang Amadeus Mozart.

»Da ich endlich meine Stimme verlor, mußte ich mich in der Unterrichtung der Jugend ganze 8 Jahr kummerhaft herumschleppen«, bemerkte Haydn als Mittvierziger lakonisch im Rückblick auf das harte Leben, das ihn erwartete, als ihn Reutter nach dem Stimmbruch mit etwa 17 Jahren aus Sängerdienst und Schule entließ. Eine Art Lebensstellung fand Haydn aber dann doch für annähernd drei Jahrzehnte, vom Frühjahr 1761 bis zum Herbst 1790, als Hofkapellmeister bei den Fürsten Esterházy im Burgenland. Trotz der provinziellen Abgeschiedenheit ihrer Residenzen und den relativ wenigen Besuchen in Wien gelang Haydn dort binnen kurzem, was Reutter sein ganzes Leben lang nicht vergönnt war (was der aber vielleicht auch gar nicht anstrebte): bei den Zeitgenossen europaweit zu einer musikalischen Berühmtheit zu avancieren. Das hatte Haydn zunächst den Druckeditionen seiner Sinfonien, seiner Kammer- und Klaviermusik zu verdanken, die seit den späten 1760er Jahren nicht nur in Wien, sondern mehr noch in Paris und London, aber auch in Amsterdam und Berlin auf dem Markt kamen.

Die allerorten beliebten Werke zogen eine Vielzahl von Bearbeitungen nach sich, mit denen man die größer besetzten Gattungen der heimischen Kammermusik im kleinen Kreis erschloss und auch sonst bestimmte Kompositionen dem gerade vorhandenen Aufführungsapparat anpasste – eine fast alltägliche Übung im Zeitalter vor der Erfindung der »Tonkonserve«, als man eben selbst musizieren musste, was man hören wollte. Solche Bearbeitungen wurden oft ihrerseits gedruckt; andere blieben handschriftliche Unikate. Nicht alles davon hat die Zeit überdauert, das Vorhandene erlaubt aber Einblicke in die Lebendigkeit der damaligen Musikpraxis, und es verleiht, wie das heutige Konzert zeigt, immer noch künstlerische Impulse.

So gab es damals auch Lautenisten, die sich Haydns Werke aneigneten. Das belegen einige Kompositionen aus seiner Feder, die eine in der Augsburger Staats- und Stadtbibliothek verwahrte Lautenhandschrift überliefert. Sie stammt aus dem Umkreis des letzten Bayreuther Hoflautenisten Bernhard Joachim Hagen und dürfte mit ihm 1769, nach dem Aussterben des Hauses Brandenburg-Bayreuth, in die benachbarte und ebenfalls brandenburgische Residenz Ansbach gekommen sein. Die heute daraus zu hörende Cassatio G-Dur stellt die Bearbeitung eines viersätzigen Haydn-Divertimentos dar, das ursprünglich mit zwei Violinen, Flöte, Oboe, Violoncello und Bass rechnete. Die süddeutsche Lautenfassung ist noch transparenter instrumentiert und verlangt an Melodieinstrumenten Flöte und Streichtrio. Sie verzichtet auf den langsamen zweiten Satz und auf einige Abschnitte der abschließenden Variationenfolge. In dreien der fünf verbleibenden Variationen brilliert dafür jetzt die Laute in sanften Tönen, wo sich vormals Violine, Oboe und Violoncello solistisch produzierten.

Noch stärker als die Laute stand die Harfe im Fokus der Haydn-Bearbeiter, ein damals in den adeligen und bürgerlichen Kabinetten, Kammern und Salons allenthalben geschätztes Zupfinstrument – schon Haydns Vater hatte sich beim Singen auf der Harfe begleitet (und das ohne Notenkenntnis). Der Salzburger Benediktinerpater Meingosius Gaelle, ein Theologe, Naturwissenschaftler und Freund von Haydns Bruder Michael, nicht zuletzt aber ein versierter Harfenist, hat die großbesetzte Sinfonie Nr. 60 C-Dur »Le Distrait« 1809 zu einem Kammerstück für Harfe, Violine, Viola und Violoncello umgearbeitet. Damit hat sich Gaelle ein recht bemerkenswertes (um nicht zu sagen: kurioses) Haydn-Werk ausgesucht. Denn hier handelt es sich eigentlich um eine sechsteilige Suite, in der sich die Schauspielmusik zu der Komödie Le Distrait (»Der Zerstreute«) von Jean-François Regnard wiederfindet, wie Haydn sie für eine Aufführung in Schloss Eszterháza 1774 komponiert hatte. Möglicherweise war auch der Hintergrund für Gaelles Salzburger Kammerfassung eine Darbietung dieses Schauspiels; ebenso gut kann es sein, dass ihn die originelle Musik einfach zur konzertanten Aufführung in kleinem Rahmen reizte. Heute sind daraus vier der sechs Sätze zu hören – darunter selbstverständlich das originelle Finale, das alleine schon den Beinamen der Sinfonie rechtfertigen würde. Denn hier brechen die Instrumente – so will es Haydn – nach den quirligen Eröffnungstakten unvermittelt ab: man hat anscheinend vergessen nachzustimmen!

Auf ganz andere Art ist ein Sinfoniesatz Haydns nachträglich zur Schauspielmusik mutiert: der zweite Satz der Sinfonie Nr. 54 D-Dur »L'Imperiale«. Sie wurde erstmals 1780 in London im Druck veröffentlicht. Eine von mehreren weiteren Ausgaben erschien 1786 in Paris, und sie dürfte auch den unbekannten Bearbeiter angeregt haben, den eingängigen Variationensatz daraus gleich im Folgejahr im dortigen Theâtre des Variétés au Palais Royal als Lied-Einlage in dem Schauspiel L'Inconséquente ou Le Fat Dupé zu präsentieren: der »Abbé«, einer der vier Charaktere des Stücks, trägt diese Romanze vor und begleitet sich dabei selbst auf der Gitarre. Es dauerte nicht lange, bis das Stück als Ariette du Fat Dupé in einschlägigen Liedersammlungen auftauchte, so in der Pariser Harfen-Edition Terpsichore, aus der die heute zu hörende Version stammt.

Aber auch Haydn selbst hat sich als musikalischer Bearbeiter betätigt. So nahm er im Nachklang seiner beiden umjubelten England-Aufenthalte der 1790er Jahre Aufträge britischer Verleger an, traditionelle Volkslieder salongerecht für Singstimme und Begleitinstrumente zu setzen. Im Falle der Welsh Airs, die George Thomson ab 1809 in mehreren Folgen herausgab, hat Haydn die mit englischen Nachdichtungen unterlegten gälischen Weisen mit einer Instrumentalbegleitung für Klaviertrio versehen; als Alternative für das Pianoforte gibt der Titel der Drucke aber ausdrücklich die Harfe an. Für die Begleitung des »Barden«, den die beiden ausgewählten Lieder vorstellen, empfiehlt sie sich nicht zuletzt wegen ihrer Erwähnung im Text.

behe

Mitwirkende

Cornelia Samuelis – Sopran nuovo aspetto Heute in folgender Besetzung Elisabeth Seitz – Salterio Johanna Seitz – Harfe Michael Dücker – Laute Thomas Kügler – Flöte Florian Deuter – Violine, Viola Mónica Waisman Ulrike Becker – Violoncello