Saison 2014/2015: Konzert 6

Sonntag, 15. März 2015 17 Uhr Belgisches Haus

Komm, fein Liebchen, komm ans Fenster

Lieder und Gitarrenmusik der europäischen Romantik Olivia Vermeulen – Mezzosopran Wulfin Lieske – romantische Gitarre Olivia Vermeulen Sendung auf WDR 3 am 25.03.2015

Das romantische Klavierlied ist heute ein fester Begriff. Doch sahen und hörten Komponisten wie Franz Schubert und Robert Schumann ihre Vokalkompositionen gerne auch einmal mit Gitarrenbegleitung! Die Gitarre hatte es kurz nach 1800 zu nie gekannter Popularität gebracht – was sich in erster Linie dem europaweiten Auftreten von Virtuosen wie dem Spanier Fernando Sor und dem Italiener Mauro Giuliano verdankte. Den betörenden Charme dieser Blütezeit von Liedgesang und Gitarrenklang machen die niederländische Mezzosopranistin Olivia Vermeulen und der Kölner Gitarrist Wulfin Lieske in ihrem Programm wieder erfahrbar.

Programmfolge

Mauro Giuliani (1781–1829) Cavatinen, op. 39 »Par che di giubilo l'alma deliri« »Confuso, smarrito« »Alle mie tante lagrime« »Ch'io sent'amor per femine« Preludio, op. 83,4: Andantino con espressione »Abschied«, aus: Sechs Lieder, op. 89 Fernando Sor (1778–1839) Etude e-Moll, op. 6,11 Seguidillas »Si dices que mis ojos« »El que quisiera amando« »Mis descuidados ojos« »De amor en las prisiones« »Cesa de atormentarme« »Muchacha y la verguenza« »Las mujeres y cuerdas« Pause Johannes Brahms (1833–1897) »Schwesterlein, wann geh'n wir nach Haus«, aus: 16 Deutsche Volkslieder, WoO 37 »Da unten im Tale«, aus: Deutsche Volkslieder, WoO 33 Jean Sibelius (1865–1957) »Heisa, hopsa bei Regen und Wind«, op. 60,2 »Komm herbei, Tod«, op. 60,1 Franz Schubert (1797–1828) »Nachtstück«, op. 36,2 / D 672 »Die Forelle«, op. 32 / D 550 Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) »Das Veilchen«, KV 476 »Abendempfindung an Laura«, KV 523 Arien aus Don Giovanni im Arrangement für Singstimme und Gitarre von Fernando Sor »Vedrai carino« »Batti, batti o bel Masetto«

Im Salon und unterm Fenster

»Bey Nacht unter dem Fenster stehen, und die Gluth eines liebenden Herzens in süssen Liedern in die Pomeranzenblüthenluft hauchen, die von einem kühlen Zephyr hinauf zur Angebetheten getragen, und von ihrem lauschenden Ohre mit Heisshunger verschlungen werden, dies wird immer und ewig des Italieners Freude bleiben ...« - Nicht zufällig wird der anonyme Korrespondent der Allgemeinen Musikalischen Zeitung das Bild eines mit inbrünstiger Leidenschaft dargebotenen abendlichen Ständchens entworfen haben, als er im Frühjahr 1823 aus Rom von einem denkwürdigen Zusammentreffen des Flötenvirtuosen Johann Sedlatzek mit seinem Gitarrenkollegen Mauro Giuliani berichtete. Es beschwört hier die romantische Aura jener eleganten Gitarrenmusik herauf, die sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vom Süden her in ganz Europa verbreitete. Mit staunenswerter technischer Brillanz bedienten die Komponisten ‒ oftmals als ihre eigenen Interpreten ‒ eine starke Nachfrage nach unkompliziert anmutender lyrischer Beschaulichkeit, wie man sie heute gerne mit dem Begriff des »Biedermeier« charakterisiert. In dieser Atmosphäre konnte sich die zart klingende Gitarre auch als podiumstaugliches Solo- und Konzertinstrument emanzipieren, ohne ihre jahrhundertealte Partnerschaft mit dem unbestritten emotionalsten aller musikalischen Instrumente aufzugeben: der menschlichen Stimme. Beides – das zugleich empfindsame und virtuose Solospiel und den intimen Liedgesang – verbindet das heutige Programm, und dies zunächst in Werken jener beiden Musikerpersönlichkeiten, die der Gitarre zu ihrer europaweiten Blüte verhalfen.

Der Name des einen Protagonisten ist schon gefallen: Mauro Giuliani stammte aus der Gegend um Bari, ließ sich aber kurz nach 1800 in Wien nieder. Er brachte eine Gitarre mit, die man an der Donau in dieser Form noch nicht kannte, denn im damals als Vizekönigreich Spaniens regierten Neapel hatten experimentierfreudige Gitarrenbauer das einstige Begleitinstrument von fünf auf sechs Saiten erweitert und damit den Tonumfang entscheidend ausgedehnt. In Wien überflügelte Giuliani die einheimischen Gitarristen bald schon in der Publikumsgunst: »Man muss diesen Künstler durchaus selbst gehört haben, um sich einen Begriff von seiner ungemeinen Fertigkeit, und seinem präcisen, geschmackvollen Vortrage machen zu können«, schrieb die Kritik nach seinem Auftritt am 3. April 1808 im Wiener Redoutensaal. Jahrelang blieb Giuliani an der Donau, von einigen Konzertreisen dies- und jenseits der Alpen abgesehen. Als Solist war er ebenso gefragt wie als Gitarrenlehrer. Man vermutet, dass ihn dann 1819 Finanzprobleme zu einer überstürzten Rückkehr nach Italien zwangen, wo er 1829 mit nur 48 Jahren starb.

Verständlicherweise dominiert Kammermusik das Œuvre Giulianis – neben den Kompositionen für Gitarre solo spielen dabei Duos eine große Rolle. Und gewissermaßen eine Sonderform dieser Duoliteratur stellen die Lieder und Arien dar, die Giuliani mit Begleitsätzen für Gitarre und für Klavier herausgab – teils als Arrangements beliebter Weisen, teils in eigenen Vertonungen. So trugen die sechs Cavatinen, die er 1813 als sein Opus 39 publizierte, den Belcanto-Ton der zeitgenössischen italienischen Oper alla Gioachino Rossini in den intimeren Rahmen der musikalischen Salons. In den mehr als zehn Jahren, die Giuliani überwiegend in Wien verbrachte, blieb er aber auch von der jungen deutschen Liedkultur nicht unbeeinflusst, zu der schon Wolfgang Amadeus Mozart zarte Pflänzchen gesät hatte und die bald im Schaffen eines Franz Schubert einen einsamen Höhepunkt erreichen sollte. So publizierte Giuliani etwa Ende der 1810er Jahre unter der Opus-Nummer 89 auch sechs Liedkompositionen auf deutsche Texte – »von Göthe, Schiller, Mathison, Tiedge u. a.«, wie der Titel ankündigt. Irrtümlich wurde Friedrich Schiller dabei das mit dem Titel Abschied überschriebene weltabgewandte Gedicht »Lebe wohl, o mütterliche Erde« zugewiesen, dem Giuliani eine ebenso schlichte wie ausdrucksvolle Liedmelodie geschenkt hat.

Beschränkt sich der Meistergitarrist als sensibler instrumentaler Begleiter des Gesangs auf ein Spiel in schlicht gebrochenen Akkorden, so entfaltet er in Solowerken wie den Six Préludes pour la Guitarre seine ganze kompositorische und interpretatorische Brillanz. Das halbe Dutzend Stücke unter der Opusnummer 83, das in einem Allegro di Fuga gipfelt, hat Giuliani dem Maler Joseph Stieler gewidmet, der selbst Gitarre spielte und zwischen 1816 und 1820 in Wien eine Reihe prominenter Porträts (u. a. von Beethoven) anfertigte. Das versonnene vierte Prélude vermittelt im heutigen Programm zwischen den opernhaften Cavatinen und dem romantischen Abschiedsgesang.

Der andere große europäische Meister auf der Gitarre kam in diesen Jahren aus Spanien, dem Mutterland des Instruments: Fernando Sor. Eigentlich hatte der im Kloster Montserrat und anschließend an der Militärakademie von Barcelona ausgebildete Musiker als Opernkomponist Karriere machen wollen; über den erzwungenen Dienst in der Verwaltung der Besatzungsarmee Napoleons verschlug es ihn nach dessen Niederlage 1813 nach Paris. Zwei Jahre später ging Sor nach London, 1823 für drei Jahre nach Moskau, bevor er endgültig an die Seine zurückkehrte. Immer komponierte er auch für die Bühne – das Bolschoi-Theater wurde 1825 mit einer seiner Ballettmusiken eröffnet. Und doch machte er überall als Virtuose auf der Gitarre Furore, für die er 1830 in Paris das grundlegende Unterrichtswerk veröffentlichte (schon im Jahr darauf erschien es auch mit deutschem Text).

Passende Etüden dazu hatte Sor bereits eine Weile zuvor geliefert und ausdrücklich seinen Schülern (und Schülerinnen) gewidmet. Er hat ihnen damit aber mehr als bloße technische Studien an die Hand gegeben; so ist die elfte Etüde ein poetisches Werk voll romantischem Gespür, ein »Lied ohne Worte« für Gitarre. Die englische Erstausgabe, die etwa um das Jahr 1817 erschien, nennt übrigens noch keine Opus-Nummer, erst eine spätere französische Wiederauflage ordnet das Dutzend Stücke als sechste Publikation in den Werkkatalog ein.

Die Seguidillas hat Sor zumindest zum Großteil noch in seinen früheren Jahren in Madrid für den heimischen Adel komponiert. Die volkstümlichen spanischen Reimdichtungen sind dabei zu launigen Ziergesängen ausgestaltet, die mit reicher Harmonik und impulsiven melodischen Wendungen aufwarten.

In der Begleitung des Liedes ist die Gitarre bis heute im kammermusikalischen Rahmen die Alternative zum Klavier geblieben; für das Musizieren im Freien und auf Reisen wurde das leicht zu schulternde Zupfinstrument dem Gesang sogar zum Gefährten par excellence. Entsprechende Bearbeitungen erschienen das ganze 19. Jahrhundert hindurch, darunter zwischen 1821 und 1828 durch den Wiener Verleger und Gitarristen Anton Diabelli 26 Lieder aus dem Œuvre von Franz Schubert (der selbst eine Gitarre besaß). Hier finden sich auch die bekannte Forelle auf einen Text Christian Daniel Schubarts und das Nachtstück mit Versen einer von Gesang und Harfenklängen durchwehten Weltvergessenheit am Ende des Tages, die aus der Feder von Schuberts zeitweiligem Wohnungsgenossen Johann Mayrhofer stammen.

In eine Serenaden-Atmosphäre, die zwischen unverfälschter Freude am folkloristisch-pittoresken Naturidyll und abgrundtiefer Melancholie changiert, führen auch die weiteren Lieder der zweiten Konzerthälfte. Johannes Brahms fühlte sich immer wieder von der – tatsächlichen oder vermeintlichen – Ursprünglichkeit der lyrischen Volkskunst in den Bann gezogen, die sich ihm in verschiedenen zeitgenössischen Sammlungen erschloss – die bekannteste davon war Wilhelm von Zuccalmaglios Edition Des Knaben Wunderhorn, der die Weise »Schwesterlein, wann geh'n wir nach Haus« entnommen ist. Brahms überführte das Volkslied dabei behutsam, doch in der Rhythmik und Harmonik des Begleitsatzes ganz pointiert in die Form des Kunstliedes. Aus einem ähnlichen Impuls heraus griff der schwedisch sozialisierte Finne Jean Sibelius ein halbes Jahrhundert später auf Dichtungen »aus alter Zeit« – nämlich von William Shakespeare – zurück, die er (ursprünglich in schwedischer Sprache) noch ganz in der Tradition der Spätromantik vertonte – in »Heisa, hopsa« eher rustikal, in »Komm herbei, Tod« mit deklamatorischem Espressivo.

Als Vorbote des romantischen Liedes erscheint die Reihe schlichter, aber ergreifender Lyrik-Vertonungen, die Wolfgang Amadeus Mozart in den 1780er Jahren komponierte. Zur Empfindsamkeit in Goethes Veilchen geht er dabei letzten Endes mit einer eigenen Textzutat und einem dissonantem Melodievorhalt auf ironische Distanz. Die Abendempfindung an Laura verbindet einmal mehr die melancholische Stimmung am Ende des Tages mit Gedanken an den Abschied vom Leben. Mozart vertonte diesen Text des Literaten Joachim Heinrich Campe 1787, im Uraufführungsjahr der Oper Don Giovanni. Für deren Partie der Zerlina, der jungen Schönen aus dem Volk, sind die abschließenden Arien des heutigen Programms geschrieben – sie richten sich jeweils an ihren zurecht eifersüchtigen Bräutigam Masetto, dem Giovanni übel mitgespielt hat. Auch diese damals allseits beliebten Gesänge haben die Aufmerksamkeit des Gitarristen und Musiktheater-Mannes Sor gefunden, der den Orchestersatz des Mozart'schen Originals in vorzüglicher Weise auf sein Zupfinstrument übertrug. Erst vor kurzem wurden diese Arrangements wiederentdeckt – und erleben heute eine ihrer ersten modernen Wiederaufführungen.

behe

Mitwirkende

Wulfin Lieske
Olivia Vermeulen – Mezzosopran
Wulfin Lieske – romantische Gitarre
Im heutigen Konzert spielt Wulfin Lieske auf einer Gitarre, die der spanische Instrumentenbauer Vicente Arias 1874 für die Weltausstellung in Barcelona baute.