Saison 2015/2016: Konzert 7

Sonntag, 17. April 2016 17 Uhr Museum für Angewandte Kunst

Johannes Brahms und Heinrich von Herzogenberg

Lieder und Klavierstücke Hélène Lindqvist – Sopran | Philipp Vogler – Pianoforte Hélène Lindqvist, Philipp Vogler Sendung auf WDR 3 am 2. Juli 2016 um 20:05 Uhr

Da Stephan Schardt das Konzert am 17. April krankheitsbedingt nicht spielen kann, haben wir das Programm geändert. Wir freuen uns auf die Sopranistin Hélène Lindqvist, die sich kurzfristig bereiterklärt hat, Lieder von Heinrich von Herzogenberg neben die von Philipp Vogler gespielten Klavierwerke von Johannes Brahms zu stellen.

Programmfolge

Johannes Brahms (1833–1897)
Ballade op. 10,1 nach der schottischen Ballade Edward
in Johann Gottfried Herders Stimmen der Völker
Heinrich von Herzogenberg (1843–1900)
  • Morgenlied op. 29,1
  • Wiegenlied op. 30,3
  • Wehmut op. 41,5
  • Die Tänzerin op. 47,2
  • Abends op. 48,6
Johannes Brahms
Acht Klavierstücke op. 76
  1. Capriccio fis-Moll. Un poco agitato
  2. Capriccio h-Moll. Allegretto non troppo
  3. Intermezzo As-Dur. Grazioso
  4. Intermezzo B-Dur. Allegretto grazioso
  5. Capriccio cis-Moll. Agitato, ma non troppo presto
  6. Intermezzo A-Dur. Andante con moto
  7. Intermezzo a-Moll. Moderato semplice
  8. Capriccio C-Dur. Grazioso ed un poco vivace

Pause

Johannes Brahms
Drei Intermezzi op. 117
  1. Andante moderato nach dem schottischen Wiegenlied einer traurigen Mutter
    in Johann Gottfried Herders Stimmen der Völker
  2. Andante non troppo e con molta espressione
  3. Andante con moto
Heinrich von Herzogenberg
  • Treue op. 91,2
  • Stimme der Nacht op. 96,3
  • Ihr Auge op. 97,2
  • Ihre Stimme op. 97,3
  • Ich schleiche meine Straßen op. 108,1
  • Bald ist die Sonne gegangen op. 108,3

Eine Künstlerfreundschaft

Im Jahr 1999 entdeckten wir einen Notenband mit einer kleinen Auswahl der Lieder Heinrich von Herzogenbergs. Die Innigkeit des musikalischen Ausdrucks und der kunstvoll polyphon verwobene Tonsatz begeisterten uns bereits beim ersten Durchgehen. Konrad Klek von der Internationalen Herzogenberg-Gesellschaft Heiden war so freundlich, uns Noten aller uns unbekannten Lieder zuzuschicken. Es fiel uns schwer, eine Auswahl zu treffen: Viele Lieder scheinen ganz unmittelbar von der innigen Liebe zu seiner Frau Elisabeth von Herzogenberg zu sprechen. Die späten Lieder stehen dann ganz unter dem Eindruck der Trauer über ihren Verlust. Im Liedschaffen von Brahms und Herzogenberg kann man viele Ähnlichkeiten im Tonsatz entdecken. Doch die liebevolle Innigkeit des Ausdrucks und die erfindungsreiche und zugleich volkstümliche Melodik der Lieder Heinrich von Herzogenbergs sind ganz einzigartig. Es scheint, dass er aus Bescheidenheit seine eigene Bedeutung als Liedkomponist nie erkannt hat.
Philipp Vogler

Hier ist ein junger Mann, Herr Heinrich Freiherr von Herzogenberg, ein Schüler des Kapellmeisters Otto Dessoff, von dem ich recht artige Lieder gesehen, und der lebhaften Wunsch hat, sich gedruckt zu sehen. Da spricht 1864 in einem Schreiben an den Leipziger Verlag Rieter-Biedermann ein Meister, der sich gönnerhaft für den künstlerischen Nachwuchs einsetzt. Dieser Meister heißt Johannes Brahms, ist selbst erst 30 Jahre alt, kann aber schon auf ein Jahrzehnt als erfolgreicher Pianist und Komponist zurückblicken – kein Geringerer als Robert Schumann in Leipzig hatte ihn 1853 als den künftigen Leitstern der Komponistenzunft vorgestellt. Seit er 1863 zum Leiter der Wiener Singakademie berufen worden ist, lebt der aus Hamburg stammende Brahms in der Donaumetropole, die spätestens seit den Zeiten Haydns, Mozarts und Beethovens als Weltstadt der Musik gilt.

Das Kompositionstalent, dem Brahms’ Fürsprache gilt, ist der zehn Jahre jüngere Heinrich von Herzogenberg, ein aus Graz gebürtiger Adeliger und Jesuitenzögling, der zum Jurastudium nach Wien gekommen ist, aber dem Kompositionsunterricht am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde bei Hofkapellmeister Otto Dessoff weit mehr Aufmerksamkeit schenkt. Brahms’ Fürsprache fällt auf fruchtbaren Boden: Tatsächlich erscheint 1865 bei Rieter-Biedermann Herzogenbergs Opus 1, sechs Lieder für Singstimme und Klavier auf Texte von Emanuel Geibel, Heinrich Heine, Joseph von Eichendorff und Nikolaus Lenau. Im gleichen Jahr schließt Herzogenberg sein Musikstudium mit Auszeichnung ab, knüpft im Folgenden auf einer Reise nach Dresden, Leipzig und Berlin weitere Kontakte zur deutschen Musikszene und lässt sich nach vertiefenden Studien bei der Wiener Kontrapunkt-Koryphäe Gustav Notteboom als freischaffender Komponist in Graz nieder. 1872 geht er nach Leipzig, wo er bald Freundschaft mit dem Philologen, Bach-Biographen und Schütz-Herausgeber Philipp Spitta schließt, 1874 einen Bach-Verein gründet und diesen seit 1876 auch musikalisch leitet. Spitta mit seinen guten Kontakten in die akademischen Kreise setzt sich auch erfolgreich dafür ein, dass Herzogenberg 1885 in Berlin die Leitung der Kompositionsabteilung am Königlichen Konservatorium übernimmt.

Dass sein Austausch mit Brahms in diesen Jahren intensiver ist als in der Wiener Zeit, ist vor allem Elisabeth von Stockhausen zu verdanken, die Herzogenberg 1868 in Graz heiratet. Die Tochter eines Hannoveraner Diplomaten und ehemaligen Chopin-Schülers ist da 21 Jahre alt und längst eine hervorragende Pianistin und Sängerin. Ihr unmittelbares künstlerisches Wirken bleibt zwar auf die musikalischen Salons im Familien- und Freundeskreis beschränkt, doch ist sie alles andere als lediglich stille Muse und Mäzenin. Nicht nur ihr Mann hört auf ihr künstlerisches Urteil, sondern ebenso – Brahms. Der hatte sie 1863 kurzzeitig als Klavierschülerin angenommen, dann aber wieder an ihren vorherigen Lehrer Julius Epstein verwiesen. Seitdem haben sich Spekulationen gehalten, dass im Hintergrund dieser Entscheidung eine aufkeimende Liebesbeziehung zwischen der Sechzehnjährigen und dem knapp 29 Jahre alten Brahms steht. Sehr verehrte und liebe oder sehr liebe und verehrte Freundin! Mit einer gewissen Scheu – aber bekennen will ich doch, daß Ihr Brief ein wahre Wohltat gewesen ist. Ich glaubte nämlich, Sie hätten was gegen mich. […] Unterdrücken Sie aber nicht, was Sie mir Freundliches über meine Musik sagen können. Es tut doch immer wohl, gestreichelt zu werden, und die Menschen sind im allgemeinen stumm, bis sie was zu nörgeln haben.

Hier heischt der arrivierte Künstler 1879 nach Anerkennung von berufener Seite: Für Brahms war das Urteil Elisabeth von Herzogenbergs offenbar ähnlich wichtig wie dasjenige Clara Schumanns. Und doch geizt er selbst jetzt mit Lob, wenn es gilt, das Schaffen des Gatten zu würdigen. Dabei hat Brahms ihn sehr geschätzt – so wie man im Hause Herzogenberg von der Musik des Freundes hingerissen war.

Der frühe Tod Elisabeth von Herzogenbergs, die 1892 mit nur 44 Jahren in San Remo einem Herzleiden erliegt, trifft dann auch Brahms hart. Sie wissen, wie unaussprechlich viel ich an Ihrer teuren Frau verloren habe, und können danach ermessen, mit welchen Empfindungen ich an Sie denke, schreibt er in seinem Kondolenzbrief. Herzogenberg, den schon seit Jahren arthritische Beschwerden plagen und teilweise an der Ausübung seiner Lehrtätigkeit hindern, stürzt der Verlust seiner Frau in eine Lebenskrise. Trost sucht er in der Liedkomposition, die ihm in fröhlicheren Tagen so oft als inniger Ausdruck des Liebesglücks diente.

Beide Seiten im Liedschaffen Herzogenbergs stellt das heutige Programm vor. Da lässt er zu Beginn im Morgenlied op. 29,1 die heiter-zärtliche Liebeserklärung Du bist mein Morgen, meine Sonne, meine liebe, verschlafene Frau – Worte seines Lieblingsdichters Eichendorff – fast durchgehend von zauberhaft sanften Arpeggien begleiten. Das Gros der weiteren Lieder gibt sich freilich selbst im Betrachten heller Bilder einer eher bitteren als süßen Melancholie hin. Am Ende steht die Trauerarbeit der Gesänge op. 108 über elegische Texte der Wilhelme Gräfin Wickenburg-Almasy. Da bewegen sich die beiden Lieder Ich schleiche meine Straßen und Bald ist die Sonne gegangen in einem resignativen Melos mit dunklen Akkorden in herben Harmoniefolgen und schweren Bassgängen.

Außer Brahms hat in unserer Zeit niemand bessere geschrieben, urteilte Philippp Spitta schon 1881 über die Lieder des Freundes Herzogenberg. Im heutigen Konzert soll es aber nicht um einen Vergleich beider Komponisten gehen. Stattdessen treten poetische Klavierwerke von Brahms in den Dialog mit Herzogensbergs Liedlyrik. So steht am Beginn die erste Ballade aus dem Opus 10 von 1854 – das sind vier Charakterstücke noch aus jenen Leipziger Tagen, in denen Brahms vom Enthusiasmus Robert Schumanns und den Liebesregungen gegenüber dessen Frau Clara getragen wurde. Im ersten Stück ließ sich der junge Komponist von der schottischen Ballade Edward inspirieren, deren Übersetzung er in Johann Gottfried Herders Sammlung Stimmen der Völker in ihren Liedern fand; ihre Verwurzelung in der alten Volksdichtung spiegelt sich in archaischen Momenten der musikalischen Gestaltung, die fast schon wieder modern anmuten.

Verbindlicher und eingängiger wirken die Klavierstücke op. 76, eine achtteilige Folge von raschen Capriccio- und verhalteneren Intermezzo-Sätzen, von denen der erste 1871 komponiert ist, die anderen aber erst 1879 entstehen. Dem Ehepaar Herzogenberg hat Brahms sie schon vor der Drucklegung zum Kopieren überlassen und bei der Dame des Hauses Begeisterung auslöst. Die leichtere Poesie, mit der sich der Künstler in diesen Stücken äußert, lässt sich als ein Reflex auf Schumann und Frédéric Chopin hören – Brahms bereitet in dieser Zeit zum Klavierwerk beider Komponisten Neu-Editionen vor.

Im ersten der drei späten Intermezzi op. 117 kommt Brahms noch einmal auf Verse schottischer Volkslyrik aus Herders Sammlung zurück. Es sind drei Wiegenlieder meiner Schmerzen, gesteht Brahms einem Freund. Komponiert hat er die drei versonnenen, fast aphoristisch wirkenden Sätze im 1892 in der Sommerfrische von Bad Ischl in Oberösterreich. Seine Gedanken mögen dabei auch zu Heinrich von Herzogenberg gegangen sein, der in diesen Tagen als Witwer in sein Sommerhaus im Appenzeller Ort Heiden oberhalb des Bodensees zurückgekehrt war. Wie wohl würde es mir tun, könnte ich nur still bei Ihnen sitzen, Ihre Hand drücken und mit Ihnen der Lieben, Herrlichen gedenken! Ihr Freund J. Brahms.

behe

Mitwirkende

Hélène Lindqvist ‐ Sopran
Philipp Vogler ‐ Pianoforte
Im heutigen Konzert spielt Philipp Vogler auf einem historischen Wiener Flügel der Brahms-Zeit (Johann Baptist Streicher 1847).